VertretungsNetz sieht sich bestätigt. Es besteht dringender Nachholbedarf bei der Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Österreich hinkt bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hinterher. Was VertretungsNetz immer wieder kritisiert, bestätigte sich bei der UN-Staatenprüfung, die am 22. und 23. August 2023 in Genf stattfand. Am Tag davor gab es das „private briefing“ mit der zivilgesellschaftlichen Delegation, gemeinsam mit der Volksanwaltschaft und dem Monitoringausschuss. Live vor Ort, als Teil der zivilgesellschaftlichen Delegation, war Martin Marlovits dabei, der stv. Leiter des Fachbereichs Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz: „Als Erwachsenenschutzverein können wir unsere Wahrnehmungen zur (fehlenden) Umsetzung von unterstützter Entscheidungsfindung und Selbstbestimmung in Österreich beisteuern, gerade wenn es um Artikel 12 der UN-BRK (Gleiche Anerkennung vor dem Recht) geht.“
Das Erwachsenenschutzgesetz ist zwar ein Meilenstein, was das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung für Menschen mit intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigungen betrifft. Seither geht die Zahl der „gerichtlichen Erwachsenenvertretungen“ (früher: Sachwalterschaften) zurück: Per 1. Juli 2023 gab es in Österreich insgesamt 35.653 gerichtliche Erwachsenenvertretungen. Das ist ein Rückgang um rund 32 Prozent im Vergleich zu 2018. Aber leider steigt die Anzahl der „gesetzlichen Erwachsenenvertretungen“ durch Angehörige stark an – diese Vertretungsform lässt nur wenig Spielraum für Selbstbestimmung. Zusätzlich erhöht sich die Gesamtzahl aller Erwachsenenvertretungen (gewählte, gesetzliche und gerichtliche) kontinuierlich. Der Hauptgrund: Es fehlen Unterstützungsleistungen wie zum Beispiel persönliche Assistenz in den Bundesländern, sodass Menschen mit Beeinträchtigungen im Alltag ohne Vertretung zurechtkommen könnten. „Die Bundesländer fühlen sich für die Umsetzung der UN-BRK nicht zuständig, obwohl sie es selbstverständlich sind. Ein Problem, das seit langem besteht und bis heute nicht zwischen Bund und Ländern geregelt wurde“, kritisiert Marlovits.
Im Maßnahmenvollzug inhaftierte Menschen mit psychischer Erkrankung haben bislang niemanden, der ihre Patient:innenrechte einfordert, Maßnahmen wie Gurt-Fixierungen oder die Behandlung mit sedierenden Medikamenten finden ohne effektiven Rechtsschutz statt. Marlovits dazu: „Personen, die eine:n gerichtliche:n Erwachsenenvertreter:in bei VertretungsNetz haben, berichten uns immer wieder, dass ihnen negative Konsequenzen angedroht wurden, sollten sie z.B. eine medizinische Behandlung ablehnen. Wir kritisiert außerdem, dass immer noch Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und demenziellen Erkrankungen im Maßnahmenvollzug untergebracht werden und – weil sie die geforderte Compliance nicht leisten – extrem lang untergebracht bleiben.“
Was sagten die Mitglieder der österreichischen Staatendelegation, die dem UN-Fachausschuss Rede und Antwort standen? „Sie haben indirekt unsere Beobachtungen bestätigt. Es wurden zwar Erfolgsprojekte hervorgehoben, aber am Ende blieben die Defizite im Vordergrund – fehlende langfristige Umsetzungskonzepte, Ratlosigkeit im Bund-Länderkonflikt und Vertröstung auf die Zukunft was die Rechte von Menschen mit psychischer oder intellektueller Beeinträchtigung betrifft“, sieht sich Marlovits in seiner Kritik bestärkt. „Es bleibt nunmehr zu hoffen, dass die Concluding Observations (Abschließenden Bemerkungen), die im September an Österreich überreicht werden, umfassende Empfehlungen für die weitere Umsetzung der UN-BRK enthalten. Damit würde Österreich erneut in die Pflicht genommen, seine Bemühungen zu verstärken und dringend erforderliche Maßnahmen endlich umzusetzen.“
Markus Schefer als Country Rapporteur (Berichterstatter) für Österreich stellte schon eingangs fest, dass es auffällt, dass offenbar seit 2017 die Bemühungen Österreichs zur Umsetzung der UN-BRK nachgelassen haben und in manchen Bereichen sogar ein Rückgang zu beobachten ist.
In seinem Schlussstatement wurde vom Country Rapporteur das Thema Föderalismus angesprochen: die Länder müssen endlich zeigen, dass sie ihre Bemühungen um die Umsetzung der UN-BRK ernst nehmen: „Take the responsibility seriously!“
Das mangelnde Engagement der Länder bei der Umsetzung der UN-BRK zeigte sich auch vor Ort – nur ein Repräsentant der neun Bundesländer, ein Vertreter des Landes Niederösterreich, war für die österreichische Delegation bei der Staatenprüfung anwesend.
Feststellen musste der UN-Fachausschuss, dass offenbar das neue 2. Erwachsenenschutzgesetz nicht wirklich funktioniert, weil die Länder die nötige Unterstützung nicht finanzieren. Sichtbar werde das unter anderem, weil in Summe mehr Erwachsenenvertretungen als im alten Sachwalterrecht registriert sind.
Zu Fragen nach der Bereitstellung von Unterstützungsleistungen und Persönlicher Assistenz wurde von der Staatendelegation, die durch mehr als 20 Repräsentanten der Republik Österreich vertreten war, unter anderem das neue Modellprojekt des Bundes zur Persönlichen Assistenz als positives Beispiel für die Umsetzung der UN-BRK hervorgehoben. Der Umstand, dass die Umsetzung bisher aber nur sehr verhalten angelaufen ist und sich die meisten Länder bisher nicht beteiligen, wurde vom Country Rapporteur mit der Klarstellung kommentiert, dass es keine Lösung sei, ohne ein Konzept „einfach 100 Millionen hier und 100 Millionen Euro dort auszugeben“. Vielmehr brauche es klare Strategien und die Verantwortung aller staatlichen Ebenen zur Umsetzung von Persönlicher Assistenz.
Auch der Freiheitsentzug von Menschen mit Behinderungen, im Speziellen das System des österreichischen Maßnahmenvollzugs, wurde von der Kommission zu einem „main issue“ erklärt und hervorgehoben, dass es nicht nachvollziehbar sei, dass Personen, die nicht schuldfähig sind, häufig eine höhere Strafe erfahren, als nach dem Strafrecht vorgesehen.
Der Umstand, dass es einen neuen „Nationalen Aktionsplan Behinderung 2022-2030“ gibt, wurde von der Kommission zwar positiv bewertet. Jedoch kritisierten sie die nur vagen Verpflichtungen und forderten: „Can you speed up the process!?"
Bei der Frage, „was macht Österreich so speziell, dass es so viel Zeit für die Umsetzung von Maßnahmen zur De-Institutionalisierung braucht?" ist die Staatendelegation ebenfalls eine Antwort schuldig geblieben und musste eingestehen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt weder ein Konzept zur Umsetzung von Art 19 (Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft) noch die Sicherstellung der Finanzierung gibt.
Gelobt wurden von der Kommission mehrfach die umfassenden und ausführlichen Stellungnahmen und Vorbereitungsarbeiten der Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Diese wurden von Kommissionsmitgliedern mit großem Interesse gelesen und bildeten eine wesentliche Grundlage für die Fragen und Einschätzungen der Kommission.