De-facto-Strafe trotz Arbeitswilligkeit: Um 25 Prozent niedrigere Leistung diskriminiert junge arbeitssuchende Menschen mit Behinderungen in Wien.
Frau M. ist 24 Jahre alt und wohnt in Wien. Aufgrund ihrer intellektuellen Beeinträchtigung wurde ihr eine gerichtliche Erwachsenenvertreterin von VertretungsNetz zur Seite gestellt. Im Frühjahr 2020 schloss Frau M. eine integrative Lehre als Konditorin ab. Hochmotiviert meldete sie sich beim AMS als arbeitssuchend und bemühte sich gemeinsam mit ihrer Arbeitsassistentin eigeninitiativ und auch erfolgreich um mehrere Trainingsplätze und Praktika.
Zwischen diesen Ausbildungszeiten lagen jedoch jeweils Wartezeiten. In diesen bezog Frau M. zur Sicherung ihrer Existenz ein geringes Arbeitslosengeld – schließlich hatte sie während ihrer Lehre einen Anspruch erworben – sowie einen aufstockenden Betrag aus der Mindestsicherung. Doch obwohl Frau M. all den Verpflichtungen nachkam, die für arbeitssuchende Menschen gelten, erhielt sie lediglich eine eingeschränkte Leistung aus der Mindestsicherung.
Erwachsenenvertreterin Martina Kargl erklärt den Grund: „Seit einer Gesetzesänderung der Wiener Mindestsicherung aus dem Jahr 2018 gibt es für die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen zwei unterschiedliche Mindeststandards. Unter 25-jährige Personen, die sich weder in einer Ausbildung noch in einem Beschäftigungsverhältnis oder einer Schulungsmaßnahme des AMS befinden, erhalten um ein Viertel weniger Mindestsicherung. Diese Kürzung ist als „Anreiz“ für junge Menschen gedacht, sich beruflich zu integrieren bzw. ihre Arbeitsmarktchancen zu verbessern. Diese Bestimmung gilt uneingeschränkt auch für arbeitsfähige Menschen mit Beeinträchtigungen“.
Frau M. wünscht sich nichts sehnlicher, als in ihrem Traumberuf zu arbeiten und zeigt viel Initiative. Doch für Menschen mit Behinderungen stehen die Chancen, Arbeit zu finden, seit jeher schlecht. Das zeigen auch AMS-Daten: Menschen mit Beeinträchtigung sind viel häufiger erwerbslos als Personen ohne gesundheitliche Einschränkungen oder Beeinträchtigungen. Sie haben nachweislich auch geringere Chancen, ein Angebot des AMS zu erhalten. Ein inklusiver Arbeitsmarkt existiert in Österreich nicht.
„Unsere Klient:innen erhalten viel seltener und meistens keine adäquaten Angebote des AMS für Kurse oder Jobs. Solange Menschen mit Behinderungen nicht den gleichen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und den Kursangeboten haben, kann man ihnen nicht vorwerfen, wenn sie keine Arbeit finden. Schon gar nicht aber darf man ihnen die Geldleistungen kürzen, auf die sie zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind“, kritisiert Kargl.
Auch das Land Wien selbst hat Frau M. kein Beschäftigungs-Angebot machen können, obwohl es sich in § 2 des Wiener Mindestsicherungsgesetzes dafür (neben dem AMS) für zuständig erklärt hat. „Eine Pflicht festschreiben, ohne die Grundlagen zu schaffen, damit diese auch erfüllt werden kann, das geht nicht“, ist Martina Kargl überzeugt.
„Nachdem sich der Wiener Landtag bisher geweigert hat, die unfaire Bestimmung aufzuheben, hat VertretungsNetz nun eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof gegen das Wiener Mindestsicherungsgesetz eingebracht“, sagt Martin Marlovits, stv. Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung. „Wir hoffen, dass das Höchstgericht der diskriminierenden Praxis einen Riegel vorschieben wird. Denn man kann Menschen mit Behinderungen nicht auch noch dafür bestrafen, dass sie am Arbeitsmarkt nicht die gleichen Chancen vorfinden.“
Der Verfassungsgerichtshof prüft derzeit bereits das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz. Zum wiederholten Mal könnten einzelne Bestimmungen aufgehoben werden, weil sie dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen. „Menschen, die aufgrund von intellektuellen Beeinträchtigungen oder psychischen Erkrankungen ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht zur Gänze durch Erwerbsarbeit sichern können, sollten aber überhaupt nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein. Für diese Personen bräuchte es eine eigene, bundesweit einheitliche sozialstaatliche Absicherung“, fordert Marlovits.