Interdisziplinäre Veranstaltung verdeutlicht gemeinsames Ziel: Lebensqualität durch klare Gesetze erhöhen
Bewegungsfreiheit ist ein Grundrecht – aber keine Selbstverständlichkeit für Menschen mit psychischen oder intellektuellen Beeinträchtigungen, die in Einrichtungen gepflegt oder betreut werden. Seit 20 Jahren überprüft die Bewohnervertretung dort Freiheitsbeschränkungen auf Basis des Heimaufenthaltsgesetz. Im Fokus stehen Rechtsschutz, Freiheit, Würde und Lebensqualität der betroffenen Kinder und Erwachsenen. Am 11.9. luden die vier Erwachsenenschutzvereine zu einer interdisziplinären Festveranstaltung, um gemeinsam Resumée über 20 Jahre Vertretungstätigkeit zu ziehen – und einen Blick in die Zukunft zu werfen.
Der langjährige Geschäftsführer und nunmehr Präsident von VertretungsNetz, Peter Schlaffer, erinnerte in seinen Eröffnungsworten daran, dass schon nach Beschluss des Unterbringungsgesetzes 1991 klar war, dass die Rechtspolitik die Menschenrechtslücke in Wohn-, Pflege- und Betreuungseinrichtungen schließen muss. Der rechtliche Rahmen für Freiheitsbeschränkungen folgte mit dem Heimaufenthaltsgesetz aber erst 2004. Eine lebendige Rechtsordnung lebe davon, Gesetze immer wieder anzupassen. Man solle sich aber von dem Gedanken leiten lassen: „Wenn ich selber einmal alt bin, demenziell erkranke, wie möchte ich, dass mit mir, mit meinen Freiheitsrechten umgegangen wird?“
Christian Auinger, Leiter der Sektion 1 Zivilrecht im Justizministerium, erinnerte daran, dass der Schutz der Persönlichkeitsrechte von Menschen, die in Einrichtungen wohnen, lange Zeit juristisches Niemandsland war. Das Heimaufenthaltsgesetz war zwar anfangs umstritten, mittlerweile wird die rechtliche Klarheit jedoch geschätzt – zumindest in Einrichtungen für Erwachsene. An klareren Vorgaben bei Beschränkungen von jugendlichen Intensivtäter:innen in Wohngemeinschaften werde im Moment gearbeitet.
Grainne Nebois Zeman, Fachbereichsleiterin Bewohnervertretung bei VertretungsNetz, zeigte in ihrem Input auf, dass sich die gemeldeten Freiheitsbeschränkungen an die vier zuständigen Vereine in den letzten 20 Jahren verdoppelt bis verdreifacht haben. Auch die Zahl der Einrichtungen, für welche die insgesamt 106 Bewohnervertreter:innen zuständig sind, ist stark angestiegen. Die Akzeptanz der Überprüfungen sei hoch. In Kinder- und Jugendeinrichtungen komme es aber immer wieder zu Interpretationsunterschieden, ob eine Maßnahme alterstypisch ist, oder als Freiheitsbeschränkung meldepflichtig sei. Gleichzeitig gelingen aber in Zusammenarbeit mit den Einrichtungen immer wieder großartige Verbesserungen der Lebensqualität von betroffenen Kindern und Jugendlichen, wenn z.B. über Alternativen zu Beschränkungen nachgedacht wird.
Christine Hutter leitet die Bewohnervertretung bei Erwachsenenvertretung Salzburg. Sie schilderte die Herausforderungen in Alten- und Pflegeheimen. Durch Personalmangel und die häufig wechselnde Belegschaft gehe viel Wissen über Freiheitsrechte verloren, es brauche mehr Aufklärung, Schulung und regelmäßige Besuche vor Ort. Regina Anhaus, Leiterin der Bewohnervertretung beim Institut für Sozialdienste(ifs) in Vorarlberg, zeigte, wie sehr gute Alternativen die Lebensqualität verbessern können. Ohne die Intervention der Bewohnervertretung würde das Personal seltener darüber nachdenken, wie sich Freiheitsbeschränkungen vermeiden lassen. Christian Bürger leitet die Bewohnervertretung des Niederösterreichischen Landesvereins für Erwachsenenschutz (NÖLV) . Er machte darauf aufmerksam, dass Krankenhausaufenthalte für Menschen mit intellektuellen bzw. demenziellen Beeinträchtigungen eine große Belastung darstellen. Krankenhäuser seien auf komplexe Betreuungsbedarfe zu wenig eingestellt. Dazu komme, dass Patient:innen manchmal sehr lange im Krankenhaus bleiben müssen, weil Pflegeplätze fehlen – eine herausfordernde Situation für alle.
Hemma Mayrhofer, Assistenzprofessorin am Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie skizzierte in ihrem Fachvortrag die Forschungsergebnisse zur Anwendungspraxis des Heimaufenthaltsgesetzes. Die Ergebnisse des Projekts FRALTERNA bestätigen, dass Wissen und Haltung des Personals eine große Rolle spielen, wenn es um den Einsatz von Freiheitsbeschränkungen geht: Je mehr Wissens- bzw. Schulungsbedarf die anordnungsbefugten Personen im Bereich HeimAufG und damit verbundener Themen haben, desto höher ist der Anteil an beschränkenden Maßnahmen. Insgesamt sei das Heimaufenthaltsgesetz ein sehr effektives Gesetz.
Sebastian Öhner, Wiener Kinder- und Jugendanwalt, plädierte in seinem Vortrag dafür, kinderrechtliche Grundlagen stärker in den Fokus des Heimaufenthaltsgesetzes zu nehmen. Das Gesetz ist bisher stark auf Selbstbestimmung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ausgerichtet. Die UN-Kinderrechtskonvention hingegen bezieht immer auch die Entwicklungs- bzw. Zukunftsperspektive mit ein. Das Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern enthalte darüber hinaus spezifische verfassungsrechtliche Bestimmungen für Kinder, z.B. was das Kindeswohl betrifft. Diese verfassungsrechtlichen Grundlagen könnten sehr wertvoll sein, wenn es darum geht, einfachgesetzliche Bestimmungen zu schärfen, wie es aktuell geplant ist.
Wo steht Österreich in punkto Menschenrechtsschutz von Menschen mit Behinderungen im internationalen Vergleich? Karin Rowhani-Wimmer, Mitglied im Komitee zur Verhütung von Folter des Europarats (CPT) betonte, dass die Institution der Bewohnervertretung international beispielhaft sei. Österreich leiste sich nämlich sowohl Menschenrechtsschutz auf präventiver, systemischer Ebene (Volksanwaltschaft, CPT) als auch die personenbezogene Kontrolle einzelner Maßnahmen (Bewohnervertretung). Das gemeinsame Ziel aller drei Rechtsschutzmechanismen bleibt, (strukturelle) Gewalt und entwürdigende Behandlung in Institutionen zu verhindern.
Susanne Jaquemar leitete die Bewohnervertretung bei VertretungsNetz von Beginn bis Ende 2024. Im Gespräch mit Moderatorin Nana Walzer erinnerte sie sich an drei wichtige Meilensteine. So gelang es 2015 nach jahrelangen Bemühungen, dass Netzbetten und andere käfigähnliche Betten per Erlass des Gesundheitsministeriums verboten wurden. Ab 2018 konnte die Bewohnervertretung nach der Novelle des Heimaufenthaltsgesetzes auch diejenigen Kinder mit Behinderungen vertreten, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht waren. Und drittens: Eine wichtige höchstgerichtliche Entscheidung, die VertretungsNetz 2006 erzielt hat, gilt bis heute: Personalmangel in Einrichtungen kann niemals eine Freiheitsbeschränkung rechtfertigen.
Im Anschluss schilderten Expert:innen aus den unterschiedlichsten Disziplinen Herausforderungen aus ihrer Sicht, wenn es um Menschenrechtsschutz in Institutionen geht. Peter Barth, Leiter der Abteilung für Familien-, Personen und Erbrecht im Justizministerium, blickte zurück auf die Entstehung des Heimaufenthaltsgesetzes. Er schätze besonders den interdisziplinären Austausch im Vorfeld eines Gesetzes, um zu möglichst guten Regelungen zu kommen.
Aus Richtersicht ergänzte Robert Protic, dass es sinnvoll sein kann, die richterliche Expertise in Bezug auf HeimAufG-Verfahren regional zu bündeln, weil die Verfahren sehr herausfordernd und komplex werden können. Irmtraud Sengschmied, Bereichsleiterin bei VertretungsNetz, verortete die Bewohnervertretung „zwischen den Stühlen“. Man müsse erfassen, warum das Personal bestimmte Entscheidungen getroffen hat, und gleichzeitig immer hinterfragen, wie der:die Bewohner:in die Situation erlebt hat.
Maria Katharina Moser, Direktorin und Geschäftsführerin der Diakonie Österreich, skizzierte das ethische Spannungsfeld, in dem sich Pflege- und Betreuungspersonen befinden: Wie viel Freiheit, wieviel Sicherheit kann bzw. soll man verantworten? Beides sind moralische Imperative, was zu Dilemmata führt. Das Personal in den Einrichtungen müsse für diese sensiblen Entscheidungen gestärkt werden, mit guten Ausbildungs- und Schulungsangeboten, waren sich auch Jakob Kabas, Präsident Lebenswelt Heim und Pflegeexpertin Claudia Schwab einig. Es gebe eine Vielzahl von Alternativen zu Freiheitsbeschränkungen, man muss sie jedoch kennen, so Schwab.
Aber ist eine würdevolle, bedürfnisgerechte Pflege und Betreuung unten den momentan schwierigen Rahmenbedingungen überhaupt noch möglich? Ja durchaus, waren sich die Expert:innen einig, aber man müsse vieles strukturell und vor allem auch präventiv denken. Insgesamt müssen wir uns die Frage stellen: Wie wollen wir künftig Menschen mit Pflege- oder Betreuungsbedarf unterstützen – und was ist uns das als Gesellschaft wert?
Abschließend bedankten sich Gerlinde Heim (Geschäftsführerin VertretungsNetz) und Delia Jagersberger (Geschäftsführerin des NÖLV) bei allen Mitarbeiter:innen für ihr Engagement und ihren Einsatz. Nach über 3.000 gerichtlichen Überprüfungen konnte man in den letzten 20 Jahren einem Gesetz mit zunächst sehr unbestimmten Gesetzesbegriffen schrittweise klare Konturen geben. Das hilft allen Betroffenen: Denn hinter jeder Meldung einer Freiheitsbeschränkung stehe ein Mensch mit seinen Bedürfnissen– und es gelte nach wie vor: „Rechte setzen sich nicht von selbst durch“.