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30.06.2004

20 Jahre Sachwalterrecht – Bilanz einer Reform

20 Jahre Sachwalterrecht waren Anlass, über eine Weiterentwicklung dieses Rechtsinstrumentes nachzudenken und zu diskutieren. Dazu veranstaltete der Verein am 30. Juni 2004 im Kleinen Festsaal des Bundesministeriums für Justiz eine Tagung mit namhaften Referenten aus Forschung, Richterschaft, Psychiatrie und Justiz. Im Mittelpunkt stand eine kritische und konstruktive Auseinandersetzung rund um die Weiterentwicklung des Sachwalterrechts.

Univ. Prof. Dr. Rudolf Forster begleitete das Projekt „Sachwalterschaft“ von Anfang an.

Ich danke für die Einladung und freue mich, bei diesem Anlass viele Personen zu sehen, denen ich mich durch das Projekt „Sachwalterschaft" langjährig verbunden fühle.
Ich finde es gut, dass der Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft 20 Jahre Sachwalterrecht nicht nur als Anlass zum Feiern sieht, sondern auch als Anlass zum Weiterdenken. Was können Sie in diesem Zusammenhang von mir erwarten? Mein Thema ist die Bilanz, also Rückschau auf das Erreichte und Nicht-Erreichte; gleichsam die Markierung des Ausgangspunkts einer auf dem heutigen Programm stehenden Diskussion über die Weiterentwicklung eines in die Jahre gekommenen Rechtsinstruments.
Bilanzen können aus verschiedenen Blickwinkeln gezogen werden und sie werden jeweils anders aussehen. Vom welchem Standpunkt aus nähere ich mich dem Thema?

1. Ich bin Soziologe und Wissenschaftler und befasse mich ca. 10 Jahre länger als es das Sachwalterrecht gibt, mit der sozialen Situation von psychisch Kranken und Behinderten in unserer Gesellschaft. D.h. gleichzeitig mit einer Situation, die sich zwar gebessert hat, die aber tendenziell immer noch durch Benachteiligung, Bevormundung, Nicht-Beachtung von grundlegenden Bedürfnissen gekennzeichnet ist. Prägender Ausgangspunkt meines Interesses und Engagements war eine Untersuchung der Patientensituation am damaligen psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien am Steinhof Mitte der 70er Jahre, die durch eine eklatante Unterschreitung der sonst in der medizinischen Behandlung, der pflegerischen und sozialen Betreuung herrschenden Standards gekennzeichnet war.

2. Ich war von Anfang an bei der Reform dabei, die ja von Anfang an zweigleisig angelegt war und Entmündigung und Anhaltung betraf. Ich habe ca. 7 Jahre hauptberuflich als Begleitforscher an dieser Reform mitgearbeitet, dazu beigetragen, dass die damalige, problematische Art der Vollziehung dieser Rechtsmaterien deutlicher sichtbar wurde, dass diese Erkenntnisse für die Neuformulierung der Gesetze herangezogen wurden, insbesondere aber dabei mitgewirkt, die organisatorischen Grundlagen der Vereinssachwalterschaft mit zu entwerfen und umzusetzen. Es war ein aufregendes und herausforderndes Projekt. Als Wissenschaftler eine große Reform mitzugestalten schien mir damals nicht ungewöhnlich, heute weiß ich besser, dass eine gelungene Zusammenarbeit von Politik, Praxis und Forschung eher selten ist und besonderer gesellschaftlicher aber auch personeller bzw. persönlicher Voraussetzungen bedarf.

3. Ich habe mich also – mit der gebotenen wissenschaftlichen Distanz – mit diesem Reformprojekt und seinen Zielen und Instrumenten identifiziert. Und ich war auch nach dem Ende des Begleitforschungsprojekts immer irgendwie mit diesem Reformprojekt verbunden: Zunächst noch stark eingebunden in die Endphasen der Entstehung des Unterbringungsgesetzes, dann durch Mitwirkung an Implementierungsmaßnahmen für dieses Gesetz, schließlich noch bis vor kurzem im Rahmen wissenschaftlicher Beobachtung zu dessen Vollziehung, und zumindest als „Einmahner" auch für den bislang letzten Teil des Reformwerks, das Heimaufenthaltsgesetz.
Ich spreche also aus der Perspektive einer starken historischen Verbundenheit mit diesem Projekt, aber gleichzeitig aus einer Position relativer Distanz und abnehmender Detailkenntnis über die Praxis. Ich habe allerdings den Eindruck, dass sich einige grundsätzliche Probleme des Sachwalterrechts in den letzten Jahren nicht wirklich geändert, vielleicht sogar noch verschärft haben. Im Grunde besteht die aus Anlass von 10 Jahren SWR – nicht nur von mir – diagnostizierte Notwendigkeit der Anpassung und Weiterentwicklung relativ unverändert noch heute.
Ich will mich heute vor allem mit einer Gesamteinschätzung des Sachwalterrechts als Reformprojekt befassen. Dabei werde ich drei widersprüchliche Einschätzungen herausarbeiten.

1. Vom Entstehungsprozess her gesehen ist das Sachwalterrecht ein selten realisiertes Lehrbuchbeispiel eines Gesetzgebungsprojekts.

2. Von seinen Ergebnissen, von der Zielerreichung her gesehen, ist es dagegen ein Gesetz, das vieles an Erwartungen auch nicht erreicht hat. Die Sachwalterschaft hat sich zweifellos anders entwickelt, als es die Absicht war und als viele von uns sich das vorgestellt hatten. Die Geschichte dieser Reform ist also auch ein Stück Ent-Täuschung.

3. Es wäre aber auch gänzlich unangemessen, die Sachwalterschaft als gescheiterte Reform anzusehen. Sie war das erste Stück eines umfassenderen Reformprojekts, das sich letztlich über ca. 20 Jahre erstreckt hat und es hat wichtige Grundlagen und Erfahrungen für dieses Gesamtprojekt bereit gestellt. Es scheint, dass erst jetzt mit dem Abschluss dieses Gesamtprojekts der Boden aufbereitet ist für einen zweiten Anlauf, eine notwendige Weiterentwicklung des einstigen Pionierprojekts auf der Grundlage der zwischenzeitlichen Erfahrungen.

Erste Beobachtung: Das Sachwalterrecht war ein gleichsam lehrbuchmäßiges Reformprojekt, mit einem relativ kurzen und konsequenten Weg von einer neuen Idee zu einem neuen Gesetz
Das SWR ist das Produkt einer politischen Reformperiode. Es steht in Zusammenhang mit der Modernisierung der österreichischen Gesellschaft in vielen Bereichen in den 70er Jahren, zu der die Rechtspolitik einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Ausgangspunkt und eigentlicher Motor des Projekts war der Vorschlag einer neuen, sozialarbeiterisch geprägten Einrichtung der Rechtsfürsorge (Sachwaltervereine), 1978 öffentlich vorgestellt von Jürgen Pelikan. Dieser Vorschlag wurde – auch in Zusammenhang mit einer wachsenden öffentlichen Kritik an den Zuständen in den psychiatrischen Großanstalten – von Bundesminister Dr. Broda aufgegriffen. Mit seiner Unterstützung kam es bald zur Gründung des Vereins für Sachwalterschaft und zu einem wissenschaftlich begleiteten Modellversuch, in dem eine neue Form der Vertretung und Unterstützung erprobt wurde, noch im Kontext der alten Entmündigungsordnung. Unterstützt von Spitzenvertretern der Rechtsberufe, aber auch von wichtigen Betroffenenorganisationen wie der Lebenshilfe konnte sich das Reform-Projekt schließlich auf einen breiten Konsens der politischen Parteien stützen und wurde als eines der letzten Gesetzgebungs-Projekte der Ära Kreisky beschlossen.
Warum war die Vereinssachwalterschaft in diesem Projekt von so zentraler Bedeutung? Über diese Institution wurde auch in diesem Rechtsgebiet der Anschluss an eine neue Verrechtlichungsstufe, an den modernen Wohlfahrtsstaat, hergestellt. In der EntmO ging es zumindest ursprünglich v.a. um das Verfahren, um eine rechtsstaatliche saubere Trennung von gerechtfertigter und ungerechtfertigter Einschränkung bürgerlicher Rechte. Die Betreuung der einmal Entmündigten war dagegen kein Thema mehr. Nun war v.a. die soziale Integration einer Randgruppe angesagt und dazu braucht es – das bewiesen andere Bereiche - auch professionell organisierter Unterstützung. Die Vereinssachwalterschaft war die eigentliche Innovation der Reform, sie verdeckte gleichzeitig, dass im Sachwalterrecht historisch vorgegebene rechtliche Schemata wie die komplementäre Beschränkung der Geschäftsfähigkeit der Besachwalteten übernommen wurden – ohne dass dies allerdings in der Zeit der Beschlussfassung von den am Gesetzgebungsprozess beteiligten Gruppen und Personen als gravierend empfunden worden wäre.

Zweite Beobachtung: Das Sachwalterrecht ist eine Reform, die vieles nicht erreicht hat
Insbesondere vier Entwicklungen widersprechen den ursprünglichen Intentionen:

1. Die Häufigkeit der Anwendung: Praktisch unmittelbar mit dem Inkrafttreten des SWR ist eine Trendumkehr erfolgt: Sanken vorher über einen längeren Zeitraum die Entmündigungen, so begann ab 1984 ein stetiger Anstieg der neuen Sachwalterschaften zu immer neuen Höchstwerten.

2. Die mangelnde Differenzierung: Aus der Idee der maßgeschneiderten Sachwalterschaft ist nur zum kleinen Teil etwas geworden. Die umfassende Sachwalterschaft ist nicht zum Ausnahme, sondern zum Regelfall geworden.

3. Die Dauer der Maßnahme: Überwiegend ist die SW noch immer eine Langzeit- oder gar Lebenszeit-Maßnahme.

4. Professionelle oder professionell angeleitete Hilfe durch die Vereinssachwalterschaft ist lediglich für eine Minderheit der Betroffenen sowohl im Verfahren als auch im Falle einer Sachwalterschaft wirksam geworden. Nahestehende Personen sind heute in einer viel größeren Zahl als vor dem SWR als rechtliche Vertreter tätig und werden dabei überwiegend nicht unterstützt. Ein unleugbares Betreuungsgefälle ist die Folge.

Resümee: Das Rechtsinstitut der Sachwalterschaft ist zu einem Instrument geworden, mit dem auf eine Vielzahl sozialer Probleme in einer nur begrenzt angemessenen Weise geantwortet wird.
Es gibt eine Reihe von Gründen, die dabei mitgespielt haben, worauf Kollege Pilgram im einzelnen noch eingehen wird:

1. Die gesellschaftliche Nachfrage ist höher als angenommen (Die rasche Veränderung der Demografie spielt hier ebenso eine Rolle wie die fortschreitende Verrechtlichung)

2. Es fehlt an geeigneten Alternativen zur Sachwalterschaft. Landet ein Fall bei Gericht, so wird Nichts-tun meist als noch schlechter angesehen.

3. Die öffentliche Wahrnehmung (bzw. zunächst auch Propagierung) der Sachwalterschaft allein als hilfreiche Maßnahme hat die Nachfrage angeheizt; die mit SW verbundenen Beschränkungen und das faktische Fehlen von Hilfe werden meist nicht ausreichend gesehen und thematisiert.

4. Es gab und gibt kein zwischen dem Justizressort, der Richterschaft und den Vereinen abgestimmtes Konzept, wie unter den gegebenen Bedingungen des gesellschaftlichen Druckes am besten mit dieser Situation umzugehen ist, insbesondere auch wie die knappe Ressource der Vereinssachwalterschaft am zielführendesten eingesetzt werden kann.

5. Eine genaue Beobachtung (Stichwort: SW-Statistik) ist nicht ausreichend institutionalisiert worden. Erst recht war eine wissenschaftliche Untersuchung der überraschenden Entwicklungen bis vor kurzem kein Thema.
Das führt unmittelbar zu einem zweiten Aspekt der Umsetzung: Das SWR ist nicht nur eine Reform, die vieles nicht erreicht hat – es ist lange Zeit nicht oder nicht ausreichend erfolgreich gelungen, das auch politisch oder öffentlich als Problem zu etablieren, das eine Antwort verlangt.
Wenn ich für die Entstehungsphase von einem lehrbuchmäßigem Reformprojekt gesprochen habe, so gilt dies weniger für die Umsetzung und insbesondere für den Umgang mit den Zielabweichungen: Die dargestellte Situation hatte niemand vorhergesehen, aber sie hat sich relativ bald abgezeichnet; sie ist (u.a. von mir des öfteren) öffentlich aufgezeigt worden; von mehreren Seiten, insbesondere den Sachwaltervereinen, sind auch Vorschläge für Veränderungen gekommen. Schon einmal, vor 10 Jahren, war die politische Bereitschaft zu einer grundlegenden Weiterentwicklung gegeben, aber letztlich ist es bis heute zu keinem konsequenten Versuch einer Kurs-Korrektur gekommen.
Die Gründe für diese relative Stagnation müssten genauer untersucht werden. Ich kann nur einige Annahmen formulieren:
Die Sachwalterrecht ist sicher kein Rechtsgebiet, in dem starke gesellschaftliche Interessen berührt sind oder gut organisierte Gruppen politischen Druck machen könnten.
Für die Rechtspolitik bestand bisher kein unmittelbarer Anlass für eine grundlegende Nachbesserung: die Reform gilt als Erfolg, weder relevante Gruppen noch die Medien forderten eine Änderung – es ist also kein Gebiet, auf dem man besondere politische Lorbeeren ernten kann.
Für die Justizverwaltung galt die Reform im Großen und Ganzen als abgeschlossen bis auf den noch länger dauernden Aufbau der Vereinssachwalterschaft. In der einschlägigen Legistik standen zunächst (zu Recht) andere, zum Teil schwierig zu realisierende Projekte im Vordergrund: zuerst das Unterbringungsgesetz, dann das Kindschaftsrecht; schließlich das Heimvertrags- und Heimaufenthaltsgesetz.

Dritte Beobachtung: Das Sachwalterrecht als Teil einer längerfristigen Gesamtumgestaltung
Bisher habe ich vor allem davon gesprochen, was das Sachwalterrecht alles nicht erreicht hat. Abschließend möchte ich daher auf die Erfolge dieses Gesetzes und insbesondere auf seine Neben- und Folgewirkungen eingehen: Die Vereinssachwalterschaft als zentrale Innovation der Reform ist zweifellos ein Erfolg: Sie hat hohe Professionalität entwickelt – eine ideale Kombination aus rechtlicher und psychosozialer Expertise; sie hat es zu hoher Akzeptanz bei anderen Expertengruppen gebracht; sie hat die Judikatur in diesem Rechtsgebiet in Gang gebracht; und sie hat einige hundert ehrenamtliche Sachwalter rekrutiert und wirkt über diese auf das gesellschaftliche Klima und Bewusstsein.
Dass das Sachwalterrecht als erfolgreiche Reform gilt und insbesondere die Vereinssachwalterschaft unumstritten ist, hat es erst ermöglicht, der Patientenvertretung zunächst im Unterbringungsgesetz und zuletzt im Heimaufenthaltsgesetz einen entsprechenden Stellenwert einzuräumen. Ohne Patientenanwälte wäre das UbG zahnlos geblieben; die Patientenvertretung im Heimbereich wird schwierig genug werden, aber sie kann auf eine Erfahrungen und Expertise aus den anderen Bereichen aufbauen.
Gerade an der Entstehung des Heimaufenthaltsgesetz wird also eine wichtige Langzeitwirkung des Sachwalterrechts deutlich. Es hat mit der VSW auch eine Einrichtung geschaffen, die zu einem zentralen Akteur in diesem rechtspolitischen Feld geworden ist. Ohne die zahlreichen, auch in verantwortungsvoller Zusammenarbeit mit den Medien aufbereiteten Hinweise aus der Vereinssachwalterschaft auf die ungelösten Probleme im Heimbereich (zum Beispiel durch den Bericht „Im rechtsfreien Raum"), aber insbesondere auch ohne die Mitarbeit des der Vereine in der legistischen Vorbereitung des Heimaufenthaltsgesetzes gäbe es dieses nicht oder jedenfalls in einer ganz anderen Form.

20 Jahre SWR müssen also gesehen werden im Kontext eines 25 Jahre laufenden, sehr unterschiedliche Politikphasen überdauernden Gesamtprojekts zur besseren rechtlichen Unterstützung von Gruppen, die es besonders schwer haben, sich Gehör und Unterstützung zu verschaffen. Das Projekt profitierte dabei von der personellen Kontinuität eines Kerns dafür engagierter Personen (ich denke dabei exemplarisch insbesondere an Sektionschef Dr. Hopf). Die Zeit scheint jetzt endlich reif, beim Sachwalterrecht in eine zweite Etappe zu gehen. Die Richtungen einer Weiterentwicklung scheinen mir im Prinzip vorgezeichnet: Es müssen alternative Rechtsinstrumente der rechtsfürsorglichen Unterstützung entwickelt werden, die es tatsächlich erlauben, die paternalistische Konstruktion der Sachwalterrechts zur letzten Alternative für einen kleinen Kreis von Betroffenen zu machen. Dann kann auch über einen möglichst zielführenden Einsatz der Vereinssachwalterschaft und eine Unterstützung der Angehörigen-Sachwalter neu nachgedacht werden. Darüberhinaus sollte die Diskussion über das Verhältnis der Rechts- zur Sozial- und Gesundheitspolitik wieder belebt werden. Einer Überforderung des Rechts ist vorzubeugen. Die Aussichtslosigkeit einer Strategie, mit einer Institution der Rechtspolitik und rechtlichen Unterstützung grundlegende Mängel der Sozial- und Gesundheitspolitik auch nur ansatzweise kompensieren zu können, ist gerade am Sachwalterrecht deutlich geworden.

In diesem Sinn hoffe ich, dass die heutige Tagung ein guter Start für eine fruchtbare und hoffentlich auch folgenreiche Diskussion zur weiteren Entwicklung dieses Rechtsgebietes sein wird.

Link: ao.Univ.Prof.Dr.Rudolf Forster – Institut für Soziologie