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Foto von Pressekonferenz der Armutskonferenz. Norbert Krammer, Martin Schenk und Barbara Bühler am Podium

© Armutskonferenz

07.07.2021

Armutsbetroffene Menschen mit Behinderungen endlich sozialstaatlich absichern!

Das Sozialhilfesystem führt nicht nur zu dramatischen finanziellen Einbußen, sondern auch zu Schikanen für Betroffene

Das Einkommen von als „arbeitsunfähig“ eingestuften Menschen mit psychischer Erkrankung oder intellektueller Beeinträchtigung setzt sich in Österreich aus individuellen Ansprüchen auf Unterhalt, Waisen-, Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension mit oder ohne Ausgleichszulage zusammen. Wenn keine oder nur ein Halbwaisenpensionsanspruch vorliegt, sind die Betroffenen auf Sozialhilfe angewiesen. Die jeweils verschiedenen Mini-Geldleistungen der einzelnen Bundesländer werden von den Behörden unterschiedlich berechnet und gehandhabt. Grundlage für die reduzierten Geldleistungen bildet überwiegend das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz des Bundes. In einzelnen Ausführungsgesetzen werden selbst Sachleistungen wie mobile Hilfen und Betreuungen auf den Sozialhilfeanspruch angerechnet und abgezogen.

Norbert Krammer, Bereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz, kritisiert: „Es ist ein undurchsichtiger Dschungel an Landes- und Bundesgesetzen, die sich zum Teil auch noch widersprechen. Die Sozialämter haben immer weniger die Funktion von Servicestellen, um die hilfesuchenden Menschen zu beraten und die materiellen Hilfen zur Verfügung zu stellen. Der restriktive Geist des Grundsatzgesetzes prägt auch die Verwaltung, die sich immer mehr auf formale Vorgaben, als auf die Beseitigung der Notlagen konzentriert. Wir erleben in unserer Vertretungsarbeit oft dieses wenig hilfreiche bis schikanöse Vorgehen der Behörden.“

Herr Binder kann es nicht glauben

Josef Binder (Name geändert) ist psychisch schwer erkrankt und traut sich kaum, seine Wohnung zu verlassen. Zwischen 2012 und 2019 attestierten ihm vier fachärztliche Befundberichte, ein arbeitsmedizinisches Gutachten, zwei weitere Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt sowie zwei amtsärztliche Gutachten Arbeitsunfähigkeit. Sogar das Verwaltungsgericht hat schon festgestellt, dass Herr Binder dauerhaft am ersten Arbeitsmarkt nicht arbeitsfähig ist. Doch nur ein Jahr nach dem Urteil verlangt die Sozialhilfebehörde erneut, dass sich Herr Binder einer Begutachtung unterzieht. Herr Binder kann das nicht nachvollziehen und kommt der Aufforderung, auch aufgrund seines psychischen Zustands, nicht fristgerecht nach. In der Folge wird ihm der Sozialhilfeanspruch aufgrund fehlender Mitwirkung gekürzt. Herr Binder ist von der Situation so überfordert, dass er für sich selbst eine gerichtliche Erwachsenenvertretung beantragt.

Antragsmarathon für „AufstockerInnen“

Das Sozialhilfe-Ausführungsgesetz in Salzburg („Sozialunterstützungsgesetz“) macht deutlich, wie kurios sich z.B. die Anrechnung der Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) für „AufstockerInnen“ auswirken kann. Bettina Riegler (Name geändert) ist aufgrund ihrer kognitiven Beeinträchtigung und einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung als nicht erwerbsfähig mit über 50%iger Behinderung eingestuft. Sie bezieht eine Halbwaisenpension, die aber nicht zur Abdeckung von Lebensbedarf und Wohnkosten reicht. Frau Riegler ist deshalb auf Sozialunterstützung angewiesen.

Noch im Vorjahr erhielt sie durchgehend eine monatliche Aufzahlung durch die Mindestsicherung. Nun wird lediglich ein Bescheid für Jänner bis April ausgestellt. Die Pensionssonderzahlung im April (Urlaubsgeld) kostet Frau Riegler den Anspruch auf Sozialunterstützung für den Mai, da die Sonderzahlung zur Gänze als Einkommen angerechnet wird. Die Pensionssonderzahlung wird nicht nur angerechnet, sondern unterbricht in der Auslegung der Salzburger Sozialbehörden den Anspruch. Im Juni kann Frau Riegler wieder Sozialunterstützung beantragen. Im Herbst wird sich diese Kuriosität wiederholen.

Werden Sonderzahlungen zum Waisenversorgungsgenuss quartalsweise ausbezahlt, muss – nach der Logik der Sozialhilfebehörde – sogar vierteljährlich einen neuer „Antrag auf Weitergewährung der Sozialhilfe“ gestellt werden. Wird die Frist verpasst, verlieren Betroffene noch mehr Geld, weil die Unterstützung nicht rückwirkend gewährt wird. Blicken sie nicht mehr durch und brauchen eine/n ErwachsenenvertreterIn, verlieren sie ein großes Stück Selbstbestimmung.

VertretungsNetz fordert:

  • Behinderung ist keine vorübergehende Notlage. Es braucht endlich eine bundesweit einheitliche sozialstaatliche Absicherung von Menschen mit Behinderungen im Sinne der UN Behindertenrechtskonvention. Zu dieser Personengruppe zählen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sowie psychischer oder demenzieller Erkrankung. Die Absicherung muss außerhalb des Sozialhilfe-Regimes konzipiert werden. Damit verbunden muss ein eigener sozialversicherungsrechtlicher Anspruch auf Unfall-, Kranken- und Pensionsversicherung sein.
  • Menschen, die dauerhaft aufgrund ihrer psychischen Erkrankung oder intellektuellen Beeinträchtigung auf Sozialhilfe angewiesen sind, dürfen nicht ständig drangsaliert und verdächtigt werden, sich Leistungen zu erschleichen. Behörden müssen Abläufe und Kommunikation so gestalten, dass eine barrierefreie Teilnahme am Rechtsverkehr für Menschen mit Behinderungen möglichst gewährleistet wird. Denn viele Erwachsenenvertretungen könnten so vermieden werden.
  • Soziale Rechte müssen endlich auch in der Verfassung als Anspruch abgesichert werden. Ein detaillierter Vorschlag der Armutskonferenz, der auch von der Volksanwaltschaft unterstützt wird, liegt bereits vor und müsste nur der parlamentarischen Bearbeitung zugeführt werden.


Link

Armutskonferenz: Sozialhilfe: Statt in einer Krisensituation Schutz zu bieten, führt das Gesetz zu einer Ausbreitung der Not