VertretungsNetz kritisiert das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz. Es bietet armutsbetroffenen Menschen keine finanzielle Existenzsicherung.
Bei der Präsentation des aktuellen Wahrnehmungsberichts der Armutskonferenz über die Auswirkungen des 2019 geschaffenen Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes und seiner bundesländerabhängigen Ausführungsgesetze am 23. März 2022 bestätigt sich, was VertretungsNetz schon lange beobachtet: Das Zweite Soziale Netz, das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz, schützt nicht vor Armut. Gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen oder intellektuellen Beeinträchtigungen bekommen das immer häufiger zu spüren. Birgit Lechner, Erwachsenenvertreterin bei VertretungsNetz in Oberösterreich, weiß anlässlich des Pressegesprächs von zahlreichen Schicksalen zu berichten, denn in ihrem Bundesland ist ein Ausführungsgesetz mit vielen Härten dazu entstanden.
Bürokratische Hindernisse
Die Hürden für die EmpfängerInnen beginnen schon während der Antragstellung. Bis zu drei Monate müssen AntragstellerInnen auf eine Entscheidung über die Höhe der Auszahlungen warten, häufig wird der Antrag noch länger verschleppt. Während dieses Zeitraums lasten Wohnraum- und Lebensmittelkosten auf ihren eigenen Schultern und sind fast nicht finanzierbar.
Auch Frau K., eine Klientin der Erwachsenenvertreterin, hatte dieses Problem. Weil keine Entscheidung über ihren Antrag in Sicht war, hat Birgit Lechner für sie eine sogenannte Säumnisbeschwerde eingereicht und direkt bei der Behörde vorgesprochen. „Meine Klientin konnte während ihrer Wartezeit Wohnung und Lebensmittel nicht bezahlen. Das muss man sich mal vorstellen! Den Behörden ist gar nicht bewusst, was sie mit langen Bearbeitungszeiträumen auslösen“, ist Lechner immer noch fassungslos. „Zusätzlich wurde Frau K. dann noch auf Grund neuer Bestimmungen der Sozialhilfe die Wohnbeihilfe drastisch gekürzt. Sie hat jetzt 111 Euro im Monat weniger zum Leben.“
Falsch kategorisiert
Doch selbst, wenn man das aufwändige Verfahren durchgestanden hat, bleibt wenig zum Leben. Das erfahren Menschen in (teil-)betreuten Wohneinrichtungen verstärkt, weil hier verminderte Richtsätze gelten. So auch Herr M.: Seine Aufwandsentschädigung für die Arbeit in einer geschützten Werkstätte, nämlich 160 Euro, werden ihm nicht mehr als Freibetrag gutgesprochen, sondern von der Sozialhilfe abgezogen, so dass ihm 684,56 Euro pro Monat übrigbleiben. Davon muss er noch 620 Euro Wohn- und Lebensmittelbeitrag stemmen. Letztendlich bleiben ihm 60 Euro zum Leben – auf Freizeitfreuden, die mit Kosten verbunden sind, verzichtet Herr M. gänzlich, um sich Kleidung und den regelmäßigen Besuch bei seiner entfernt lebenden minderjährigen Tochter leisten zu können. „KollegInnen bei VertretungsNetz stellen Spenden für ihn auf, damit sich sein Leben halbwegs ausgeht. Das kann doch nicht im Sinne des Erfinders der Sozialhilfe sein“, ärgert sich Lechner über das Nachfolgegesetz der Mindestsicherung. „Überhaupt, verminderte Richtsätze in allen teilbetreuten Wohnungseinrichtungen auszuzahlen, ist absurd. Da wohnen Menschen in einer Einrichtung zusammen, die von den Behörden bunt zusammengewürfelt wurden. Sie teilen sich den Küchenraum und manchmal noch die Waschmaschine, aber leben sicher nicht in einer Haushalts- oder Lebensgemeinschaft. Dennoch werden sie vom Staat als solche beurteilt und erhalten so monatlich rund 300 Euro weniger als Alleinstehende“, kritisiert die Erwachsenenvertreterin die neue Praxis.
Zu wenig zum Leben
Auch Menschen in vollbetreuten Wohn- und Seniorenheimen trifft die Sozialhilfe hart: Der neue Richtsatz gesteht den BewohnerInnen ganze 156,74 Euro im Monat zu. Dieser Betrag muss ausreichen, um sich die kleinen privaten Bedürfnisse zu erfüllen, die im Wohnheimalltag nicht inkludiert sind: Frisör, Fußpflege, Süßigkeit, Lieblingsmüsli und das hautfreundliche Duschgel.
„In vielen Fällen bleibt den BewohnerInnen aber nicht einmal dieser geringe Richtsatz“, klagt Birgit Lechner. Sie erzählt von ihrer Klientin Frau W.: Diese ist seit 2012 in einer vollbetreuten Wohneinrichtung. Sie bezieht von ihrem Vater 200 Euro Unterhalt, der von der Sozialhilfe abgezogen wird – eine Unterstützung erhält sie daher nicht. Zusätzlich muss sie wegen des Unterhalts 160 Euro Wohnkostenbeitrag an das Land Oberösterreich zahlen. „Ihr bleiben 40 Euro im Monat – viel zu wenig, wenn man bedenkt, was das Leben heutzutage kostet. Dabei hat jeder Mensch das Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und dazu gehört es auch, sich einen Frisörbesuch oder das Lieblingsjoghurt leisten zu können.“
Neue Sozialhilfe nötig
Birgit Lechner fühlt sich durch den Wahrnehmungsbericht der Armutskonferenz in dem bestätigt, was sie in ihrer täglichen Praxis als Erwachsenenvertreterin bei VertretungsNetz erlebt: Das Sozialhilfegrundsatz-Gesetz und die entsprechenden Ausführungsgesetze sind keine Hilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder intellektuellen Beeinträchtigungen. Die Richtsätze haben sich verschlechtert und sind zu knapp bemessen. Armut wird nicht verhindert und die Perspektive auf eine selbstbestimmte Zukunft versperrt. VertretungsNetz fordert daher von der Politik, die Sozialhilfe neu aufzustellen, denn das Zweite Soziale Netz darf keine Armutsfalle bleiben.
Link zum Wahrnehmungsbericht der Armutskonferenz: Erhebung zur „Sozialhilfe“ aus Sicht von ExpertInnen der sozialen Praxis