Was gilt bei Freiheitsbeschränkungen in Pflegeheimen? Grainne Nebois-Zeman, Fachbereichsleiterin Bewohnervertretung, beantwortet oft gestellte Fragen.
Aus Angst, dass Pflegeheim-Bewohner:innen aus dem Bett stürzen könnten, fordern Angehörige von Pflegepersonen, dass sie Seitengitter am Bett montieren – und reagieren oft mit Wut und Unverständnis, wenn das nicht geschieht. Warum sind Bettseitenteile so problematisch?
Es ist natürlich absolut nachvollziehbar, dass man sich um pflegebedürftige Angehörige sorgt, vor allem wenn sie womöglich schon gestürzt sind und sich dabei verletzt haben. Für Bewohner:innen, die orientiert sind und sich ein Bettseitenteil wünschen, stellt das Bettseitenteil keine Gefahr dar. Doch bei demenzerkrankten Menschen ist es anders. Viele sind trotz kognitiver Einschränkungen noch mobil. Sie versuchen dann, das Bett zu verlassen und klettern über die Bettseitenteile. Das ist gefährlich, die Sturzhöhe ist durch das Bettseitenteil beträchtlich. Durch unsachgemäßes Anbringen der Bettseitenteile kam es sogar schon vereinzelt zu Todesfällen. Verletzungen durch Einklemmen oder Hämatome kommen immer wieder vor. Ältere Menschen haben ja zudem eine viel empfindlichere Hautstruktur.
Welche Alternativen gibt es zu Bett-Seitenteilen?
Es gibt viele schonendere Maßnahmen, die einen Sturz aus dem Bett verhindern bzw. verhindern, dass sich die Person verletzt, sollte sie dennoch aus dem Bett fallen. Die Entscheidung muss individuell – also auf die Bewohner:in zugeschnitten – getroffen werden. Wer noch gehfähig ist, profitiert vielleicht von einem Sensorbalken oder einer Sensormatte vor dem Bett. Die Sensoren machen die Pflegepersonen aufmerksam, wenn ein:e Bewohner:in aufstehen möchte, und sie können dabei unterstützen. Das würde auch die weitere Mobilität der Bewohner:innen fördern.
Wenn jemand nicht mehr gehfähig ist, kommen Abrollmatten, Niederflurbetten oder andere Maßnahmen wie bodennahe Pflege in Betracht, die verhindern, dass die Person aus dem Bett stürzt und sich verletzt. Menschen mit demenzieller Erkrankung haben oft eine andere Körperwahrnehmung und erkennen den Bettrand nicht. Dem kann man z.B. mit Lagerungsschlangen u.ä. begegnen.
Heißt das im Umkehrschluss, dass Bettgitter nicht mehr erlaubt sind?
Durchgehende Seitenteile, also Gitter über beide Seiten, entsprechen seit 2006 nicht mehr dem Pflegestandard. Wenn das Bett mit einer Seite an der Wand steht, ist es auch mit einem Seitenteil de facto ganz geschlossen, die Person ist damit eingesperrt. Nochmal: Bei orientierten Personen ist ein Bettgitter natürlich zulässig, wenn sie es wünschen. Auch nach Operationen im Krankenhaus werden sie verwendet, z.B. bis ein:e Patient:in aus einer Narkose wieder erwacht.
Eine Person mit Demenzerkrankung versteht nicht, warum sie nicht über das Seitenteil klettern soll. Der vermeintliche Schutz kann also sogar gefahrenerhöhend werden. Pflegekräfte – als Spezialist:innen vor Ort – können natürlich ein Bettseitenteil anordnen, wenn sie der Ansicht sind, es sei die einzige Maßnahme, die in diesem Fall möglich ist und es gäbe keine Alternativen oder gelindere Mittel – also Beschränkungen, die schonender sind für den:die Betroffene:n. Die Bewohnervertretung wird die Seitenteile dann hinsichtlich der Voraussetzungen des HeimAufG überprüfen. Ganz wichtig, weil es immer wieder Missverständnisse gibt: Freiheitsbeschränkungen sind nicht per se unzulässig. Sie müssen aber gemeldet und überprüft werden, es muss hinterfragt werden, ob sie auch wirklich notwendig sind. Denn selbstverständlich haben auch Bewohner:innen in Institutionen ein Grundrecht auf persönliche Freiheit.
Dürfen Angehörige oder Erwachsenenvertreter:innen ein Seitenteil anordnen, weil sie davon ausgehen, dass die Person selbst es wünscht?
Nein, das ist nicht möglich. Das Pflegepersonal hat in diesem Bereich die Expertise. Die Pflegepersonen müssen die Gefährdung einschätzen und sollten auch Alternativen bzw. gelindere Mittel andenken. Seitenteile auf Wunsch oder Drängen der Angehörigen begegnen uns dennoch immer wieder in unserer Vertretungspraxis, es ist ein konfliktbehaftetes Thema, weil Angehörige verständlicherweise aus der Sorge heraus reagieren. Aber die gesetzlichen Grundlagen sind ganz eindeutig.
Die Zahlen von VertretungsNetz zeigen seit 2023 einen erneuten Anstieg der Freiheitsbeschränkungen durch Seitenteile. Wie ist das möglich?
Es ist ein geringfügiger Anstieg, aber er macht uns Sorgen. Wir verstärken Aufklärung und Information in den Einrichtungen. Bedingt durch den Personalmangel in der Pflege, die ständige Unterbesetzung, kommt es wieder mehr zu Beschränkungsarten, von denen wir dachten, wir hätten sie schon überwunden, weil sie eben nicht mehr Pflegestandard sind. Pflegekräfte stehen in den letzten Jahren so unter Druck, dass die Zeit für bedarfsgerechte Pflege oft eng wird. Schnell greift man dann zu Freiheitsbeschränkungen, die aber nicht nötig sind – denn auch mit knappen Personalressourcen lassen sich gelindere Maßnahmen und Alternativen erfolgreich umsetzen. Personalmangel selbst darf nie ein Grund für eine Freiheitsbeschränkung sein. Ich darf niemanden unter sedierende Medikamente setzen oder einsperren, um das Personal zu entlasten.
Dürfen Pflegekräfte demenzerkrankte Bewohner:innen aufhalten, wenn sie die Einrichtung verlassen?
Wenn jemand nicht orientiert und dadurch im Straßenverkehr gefährdet ist, sollte man ihn oder sie klarerweise nicht ohne Begleitung in den Straßenverkehr lassen. Deshalb hat die Pflegekraft innerhalb der Einrichtung grundsätzlich durch das HeimAufG das Recht, Bewohner:innen, die gefährdet sind und die nicht begleitet werden können, aufzuhalten und zurückzubringen. Hat eine Bewohner:in bereits die Einrichtung verlassen, muss man die Polizei rufen, da das HeimAufG außerhalb der Einrichtung nicht mehr anwendbar ist. Viele Einrichtungen haben Alarmsysteme, z.B. Desorientierten-Fürsorgesysteme, meist in Form von Armbändern. Wenn gefährdete Bewohner:innen versuchen, die Einrichtung verlassen, weist ein Alarm die Pflegekräfte darauf hin. Es gibt auch Chip-Systeme, bei denen Türen sich automatisch schließen, wenn sich gefährdete Bewohner:innen nähern. Von Türcodes, Türtastern oder Drehknäufen raten wir jedoch ab, denn sie beschränken alle Bewohner:innen, die den Code nicht kennen oder eingeben können – und nicht nur die, die gefährdet sind.
Darf man Bewohner:innen Medikamente heimlich verabreichen, wenn sie sie immer wieder ausspucken, z.B. gemörsert im Essen?
Nein, eine heimliche Medikamentengabe wäre eine unzulässige, weil eigenmächtige Heilbehandlung. Bewohner:innen müssen informiert werden und der Behandlung ausdrücklich zustimmen – wenn sie das nicht können, tritt die Erwachsenenvertretung auf den Plan. Wenn Bewohner:innen aber Probleme beim Schlucken haben, kann die Pflegeperson nach Rücksprache mit dem Arzt:der Ärztin natürlich eine andere Darreichungsform der Medikamente wählen, z.B. sie mörsern und in ein Joghurt geben. Das muss sie der:dem Bewohner:in aber sagen.
Erwachsenenvertreter:innen müssen also in Bezug auf medizinische Behandlungen immer informiert und gefragt werden?
Ja, wenn Bewohner:innen in medizinischen Belangen nicht mehr entscheidungsfähig sind, muss der:die Erwachsenenvertreter:in oder Vorsorgebevollmächtigte der medizinischen Behandlung zustimmen. Sedierende Medikamente sind zusätzlich an die Bewohnervertretung als Freiheitsbeschränkung zu melden, wenn der Person durch die Medikation die Ortsveränderung erschwert wird.
Was gilt, wenn ein:e Bewohner:in die Körperpflege verweigert? Darf man jemanden unter Zwang waschen, damit er:sie nicht verwahrlost?
Ganz grundsätzlich gilt, dass niemand in einer Pflegeeinrichtung unter Zwang behandelt werden darf. Mangelnde Körperhygiene kann aber auch schnell zu einer gesundheitlichen Gefährdung führen, z.B. wenn jemand Inkontinenzeinlagen trägt. Es gibt viele gelindere Maßnahmen, um jemanden dazu zu bringen, Körperpflege zuzulassen, z.B. basale Stimulation. Manchmal hilft auch ein Bezugspflegesystem, wenn es an einer bestimmten Pflegeperson liegt, mit der sich der:die Bewohner:in nicht versteht. Wichtig ist das Tempo: Viel erklären, nicht einfach hingreifen. Vereinzelt sehen wir jedoch Körperhygiene unter Zwang leider immer wieder. Wir gehen davon aus, dass die Pfleger:innen in solchen Situationen stark unter Druck stehen. Bedürfnisgerechte Pflege braucht Zeit, und die ist manchmal nicht vorhanden.
Dürfen die Zimmer der Bewohner:innen über Nacht sicherheitshalber bzw. aus Personalmangel verschlossen werden?
Sofern es Bewohner:innen jederzeit möglich ist, ihr Zimmer zu verlassen und nur verhindert werden soll, dass unberechtigte Personen das Zimmer betreten, ist das durchaus sinnvoll – wenn Bewohner:innen mobil sind. Falls jedoch das Zimmer rasch evakuiert werden müsste, z.B. bei einem Brand, kann eine versperrte Türe gefährlich werden. Das muss von der Pflege wohlüberlegt sein.
Dass wirklich jemand im Zimmer eingesperrt wird, ist bei Erwachsenen selten und wir lassen es immer sofort gerichtlich überprüfen, es wird in der Regel als unzulässig beurteilt. Während der Covid-Pandemie war Einsperren bzw. (Mit-)Isolieren von Bewohner:innen ein großes Thema, zum Glück ist das überwunden. Diese Zeit hat uns aber eindrücklich gezeigt, wie schnell Freiheitsrechte vor allem für Menschen, die in Institutionen leben, in Gefahr sind.
Haben Bewohner:innen ein Recht auf Mobilisierung?
Wir sehen leider immer häufiger, dass Bewohner:innen tagelang im Bett bleiben müssen, weil das Personal für die Mobilisierung fehlt. Viele Bewohner:innen haben auch keine Angehörigen, die sie dabei unterstützen können, z.B. ins Freie zu gelangen. Auch eine fehlende Mobilisierung, auf die ein:e Bewohner:in angewiesen ist, stellt eine Freiheitsbeschränkung dar. Weil es sich auch in diesem Fall um einen Grundrechtseingriff handelt, vertreten wir Bewohner:innen auch in solchen Situationen.