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Rainer Sturm, Pixelio

17.12.2020

Das System Maßnahmenvollzug ist menschenrechtswidrig

VertretungsNetz fordert längst überfällige Gesetzesreform.

Eine unüberlegte Bemerkung, die als lebensgefährliche Drohung verstanden wird, und ein Gutachten, in dem eine psychische Erkrankung und eine deshalb erhöhte Gefährlichkeit attestiert werden: Das reicht in Österreich aus für eine Unterbringung im Maßnahmenvollzug – und zwar auf unbestimmte Zeit, vielleicht lebenslang.

Mehr als 80 % der Menschen im Maßnahmenvollzug werden wegen minderschwerer Delikte wie gefährliche Drohung, (versuchter) Widerstand gegen die Staatsgewalt oder (versuchte) Nötigung eingewiesen. Im Gegensatz zur Strafhaft wird die Maßnahme aber zeitlich unbegrenzt ausgesprochen. Der Weg hin zu einer (stets bedingten) Entlassung ist langwierig und für die Betroffenen psychisch belastend. Nur einmal im Jahr wird überprüft, ob die Unterbringung aufgehoben werden kann. Mangelhafte Sachverständigen-Gutachten liefern in aller Regel die Basis für eine Haftverlängerung. Frühzeitige Entlassungen scheitern oft an fehlenden Therapieangeboten. Zwischen 2015 und 2019 stieg die Anzahl der Häftlinge um 25 Prozent.

Rund 8 Prozent der nach § 21 Abs 1 StGB (als „zurechnungsunfähige geistig abnorme Rechtsbrecher“) untergebrachten Personen im Maßnahmenvollzug werden derzeit von einer gerichtlichen Erwachsenenvertreterin oder einem gerichtlichen Erwachsenenvertreter von VertretungsNetz vertreten. „Unsere MitarbeiterInnen sind eine der ganz wenigen Berufsgruppen von außen, die Zutritt zu diesem System haben. Und sie beobachten dort seit vielen Jahren gravierende Missstände und Menschenrechtsverletzungen“, so Martin Marlovits, stv. Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz. Ebenso lang fordert VertretungsNetz schon Reformen in diesem Bereich. Anfang 2015 wurde von einer multiprofessionellen Arbeitsgruppe im Auftrag des Justizministers ein Entwurf für einen menschenrechtskonformen Maßnahmenvollzug mit 96 Empfehlungen vorgelegt. Doch bisher scheiterte die Reform an der fehlenden Finanzierung.

Rechtsschutz fehlt
Die ErwachsenenvertreterInnen fordern eine umfassende Reform des derzeitigen Systems, die Beseitigung der strukturellen Missstände und eine Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen; so unter anderem: dass Personen mit intellektuellen Beeinträchtigungen nicht im Maßnahmenvollzug untergebracht werden dürfen, da sie in aller Regel einer entsprechenden Therapie nicht zugänglich sind; die Begrenzung auf Delikte mit mehr als dreijähriger Strafdrohung; eine massive Verbesserung der Gutachten und der Gefährlichkeitsprognosen; die Bereitstellung adäquater Therapie- und Nachsorgeeinrichtungen; die zwingende anwaltliche Vertretung im Verfahren, wie sie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte empfiehlt.

Wenn Menschen in die Psychiatrie zwangsweise eingewiesen werden, gilt das sogenannte Unterbringungsgesetz, das einen menschenrechtskonformen Umgang mit Betroffenen sicherstellen soll. Der psychisch erkrankten Person wird ein Patientenanwalt oder eine Patientenanwältin von VertretungsNetz zur Seite gestellt. „Für psychisch erkrankte Menschen im Maßnahmenvollzug fehlt jedoch ein entsprechendes Gesetz“, kritisiert Bernhard Rappert, Fachbereichsleiter Patientenanwaltschaft bei VertretungsNetz. „Wir fordern eine gesetzliche Grundlage, damit diesen Personen ähnlich wie auf psychiatrischen Krankenhausabteilungen eine wirksame rechtliche Unterstützung zur Seite gestellt wird.“

Rechtslücke auch nach Entlassung
Ein Problem sind auch fehlende Nachsorgeeinrichtungen mit entsprechenden Betreuungskonzepten und gut qualifiziertem Personal. Fast ausnahmslos erfolgt die (seltene) Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug nämlich bedingt und unter der Auflage des betreuten Wohnens. Erhalten die ehemaligen Häftlinge einen Heimplatz, sind sie dort oft gerichtlichen Auflagen unterworfen wie z.B. der Einnahme von Medikamenten. Die Einrichtungen verhängen mitunter auch von sich aus Freiheitsbeschränkungen, die ihre Grundlage nicht in einer strafrechtlichen Weisung haben (z.B. Festhalten, Versperren des Zimmers, Zurückhalten beim Verlassen der Einrichtung).

Solche Freiheitsbeschränkungen in Einrichtungen werden normalerweise von der Bewohnervertretung kontrolliert, die entsprechende Rechtsgrundlage dafür ist das Heimaufenthaltsgesetz. Leider gilt dieser Rechtsschutz für Entlassene aus dem Maßnahmenvollzug nicht – obwohl sie mitunter in den gleichen Einrichtungen leben wie andere BewohnerInnen mit psychischer Erkrankung und eventuell sogar den gleichen Freiheitsbeschränkungen unterworfen sind. „Es ist einfach unverständlich und menschenrechtlich problematisch, dass für zwei Menschen, die sich in derselben Einrichtung aufhalten, zwei unterschiedliche Rechtsgrundlagen gelten“, so Susanne Jaquemar, Fachbereichsleiterin Bewohnervertretung bei VertretungsNetz.

VertretungsNetz fordert ein Maßnahmenvollzugs-Gesetz, das den Rechtsschutz der betroffenen Menschen sicherstellt und die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie und Wiedereingliederung in die Gesellschaft schafft. Denn derzeit widerspricht das System Maßnahmenvollzug sowohl der UN-Behindertenrechtskonvention als auch der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.


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