Ein Problem rückt in den Fokus
Am 15. Juni wurde der alljährliche internationale Tag gegen Gewalt an älteren Menschen begangen. Während Pflegeinstitutionen Freiheitsbeschränkungen bei Pflegebedürftigen nur im engen gesetzlichen Rahmen des HeimAufG durchführen dürfen und an die Bewohnervertretung melden müssen, weiß man wenig über derartige Maßnahmen bei Betroffenen, die zuhause von Angehörigen oder Pflegekräften gepflegt werden.
Leider fehlt für Österreich noch systematisches Wissen über Häufigkeit, Hintergründe und Einflussfaktoren in Zusammenhang mit Freiheitsbeschränkungen in der extramuralen Pflege, also der Pflege durch Privatpersonen, oft in den eigenen vier Wänden der Betroffenen. Für Deutschland wurden im Rahmen des Forschungsprojekts „Redufix ambulant“ erschreckende Zahlen ermittelt: So werden ca. 11% aller Pflegebedürftigen zuhause fixiert. 30-50% sind es in der Gruppe der dementen Personen.
Diese Zahlen können auch für Österreich als Richtwert angenommen werden. Oft sind Privatpersonen mit der Pflege überfordert und behelfen sich mit dem Anbringen von Seitenteilen am Bett, Gurtfixierungen und dem Einsatz von ruhigstellenden Medikamenten. Dies gilt vor allem dann, wenn die Pflegebedürftigen unter psychischen Beeinträchtigungen leiden. Dass derartige Eingriffe in der Pflege gängig sind, ergab auch die 2009 durchgeführte Studie "Übergriffe, Gewalt und Aggression gegen ältere Menschen" der Universität Wien im Auftrag des Sozialministeriums.
Freiheitsentziehung ist illegal
Es fehlt jedoch am Problembewusstsein. Oft wissen pflegende Personen gar nicht, dass eine Freiheitsbeschränkung vorliegt, die ohne die Zustimmung des oder der Betroffenen strafbar ist. Der strafrechtliche Tatbestand heißt Freiheitsentziehung und wird mit bis zu drei Jahren Haft geahndet, in schweren Fällen mit bis zu zehn Jahren. Der Tatbestand ist auch erfüllt, wenn Betroffene einer Freiheitsbeschränkung zwar zustimmen, die Tragweite ihrer Entscheidung jedoch aufgrund von psychischen Beeinträchtigungen nicht abschätzen können.
Wichtig zu wissen: Es ist ein höchstpersönliches Recht des Betroffenen, in eine Freiheitsbeschränkung einzuwilligen. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen dürfen niemals durch die stellvertretende Zustimmung eines Sachwalters oder einer Sachwalterin legitimiert werden.
„Freiheitsbeschränkungen dürfen nur kurzfristig und im Notfall zur Gefahrenabwehr zum Einsatz kommen. Bedingung dafür ist, dass es ohne eine entsprechende Maßnahme zu einer schweren Körperverletzung des oder der Betroffenen oder anderer Personen kommen würde“, betont Susanne Jaquemar, Fachbereichsleiterin der Bewohnervertretung bei VertretungsNetz.
Warum gibt es kein Gesetz, das Freiheitsbeschränkungen auch zuhause unter bestimmten Umständen legitimiert? „Weil bei Schaffung des Heimaufenthaltsgesetzes davon ausgegangen wurde, dass Freiheitsbeschränkungen nur dort nötig sind und erlaubt sein sollen, wo sich Gefährdungssituationen nicht mehr durch zwischenmenschlichen Kontakt innerhalb familiärer bzw. familienähnlicher Strukturen abfedern lassen“, erklärt Susanne Jaquemar.
Ab Gewährung von Pflegestufe 6 wird vorausgesetzt, dass die dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich ist. Auch der „Erschwerniszuschlag“, eine pauschale Abgeltung von außergewöhnlichem Mehraufwand in der Pflege, zielt in die Richtung, sicherzustellen, dass eine Pflegeperson verfügbar ist und Nachschau hält, sodass Pflegebedürftige gar nicht erst alleingelassen werden müssen. Dennoch werden diese mitunter ohne ihre Zustimmung alleine im Haus eingesperrt. Dies stellt eine Freiheitsentziehung dar und ist illegal.
Multidisziplinärer Ansatz
Bislang fehlen für Österreich Zahlen zu Freiheitsbeschränkungen im häuslichen Bereich, um die Dimension der Problematik genau zu erfassen. Susanne Jaquemar: „Wir regen an, dass eine Datengrundlage zu Freiheitsbeschränkungen im extramuralen Bereich geschaffen wird und auf dieser Basis entsprechende Maßnahmen gesetzt werden, um sie zu vermeiden.
Wie kann man nun verhindern, dass es zuhause zu Freiheitsbeschränkungen kommt? „Angehörigen müsste bewusst gemacht werden, wie man eine Freiheitsbeschränkung als solche erkennt. Darüber hinaus sollte in der Öffentlichkeit vermehrt darüber informiert werden, warum solche Maßnahmen ein menschenrechtliches Problem darstellen und außerdem für Betroffene gefährlich werden können – wenn beispielsweise Fluchtwege bei Gefahr versperrt sind oder es zu Überdosierungen bzw. Stürzen durch die Einwirkung von Medikamenten kommt“, so Susanne Jaquemar.
Pflegende Angehörige müssten auch im Umgang mit alternativen Hilfsmitteln und Pflegemethoden geschult werden. Barrierefreie und sichere Wohnungen, Geh- und Mobilisationstrainings oder Hüftprotektoren helfen, die Eigenständigkeit zu bewahren und damit Sturzrisiken zu vermindern. Einfache Hilfsmittel wie z.B. Antirutschmatte und Bettranderhöhungen, Betten mit zweiteiligen Seitenteilen sowie Sturz- und Abrollmatten können Freiheitsbeschränkungen verhindern oder zumindest als gelinderes Mittel zum Einsatz kommen.
Auch moderne Technik kann Ansatzpunkte für Alternativen liefern: Beispiele sind etwa Niederflurbetten, GPS, Sensormatten sowie elektronische Meldesysteme und Armbänder. Susanne Jaquemar dazu: „Auch hier wäre ein entsprechendes Beratungsangebot für pflegende Angehörige dringend erforderlich.“
Links:
Deutschland:
Redufix ambulant, Informationsbroschüre für Angehörige
Österreich:
Studie "Übergriffe, Gewalt und Aggression gegen ältere Menschen"