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Aufenthaltsbereich im Pflegeheim, Rückenansicht einer im Rollstuhl sitzenden Pflegeheimbewohnerin mit weißen kurzen Haaren; verschwommen im Hintergrund weitere Personen in Rollstühlen

© Adobe

16.05.2024

Freiheitsbeschränkungen in Wohn- und Pflegeeinrichtungen auf Rekordniveau

VertretungsNetz – Bewohnervertretung appelliert: Negativspirale durchbrechen!

Die Bewohnervertretung überprüft im Auftrag des Justizministeriums Freiheitsbeschränkungen an Menschen, die institutionell betreut oder gepflegt werden. Beispiele sind etwa Bettseitenteile, versperrte Räume, Festhalten gegen körperlichen Widerstand, Gurte am Rollstuhl oder auch sedierende Medikamente. Für das Jahr 2023 verzeichnete die Bewohnervertretung erneut in Folge einen Rekordwert an gemeldeten Beschränkungen.

„Noch nie seit Inkrafttreten des Heimaufenthaltsgesetzes 2005 wurden uns so viele Freiheitsbeschränkungen gemeldet wie 2023. Sowohl die Zahl der Betroffenen als auch die Zahl der Freiheitsbeschränkungen sind allein seit 2019 – dem Jahr vor der Pandemie – um über 30 Prozent angestiegen“, sagt Susanne Jaquemar. Sie leitet seit fast 20 Jahren die Bewohnervertretung bei VertretungsNetz.

Insgesamt wurden 92.496 bestehende Freiheitsbeschränkungen an 33.437 Personen verzeichnet. 57.606 neue Freiheitsbeschränkungen wurden neu gemeldet und von der Bewohnervertretung auf Zulässigkeit überprüft. Das Einsatzgebiet von VertretungsNetz umfasst dabei ganz Österreich mit Ausnahme von Vorarlberg sowie Teilen von Niederösterreich und Salzburg, wo andere Erwachsenenschutzvereine tätig sind. 

Negativspirale in Alten- und Pflegeheimen

Besonders alarmierend ist der erneut starke Anstieg von Freiheitsbeschränkungen in Alten- und Pflegeeinrichtungen. Verglichen mit 2019 beträgt der Zuwachs 60 Prozent. Jede:r vierte Heimbewohner:in ist von mindestens einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme betroffen. 70 % der Freiheitsbeschränkungen in Pflegeeinrichtungen erfolgen durch die Gabe von sedierenden Medikamenten.

Erstmals seit einigen Jahren wurden auch wieder mehr Beschränkungen im Bett verzeichnet – hier vor allem durch Bettseitenteile. Diese Bettgitter bergen ein hohes Verletzungsrisiko, weil etliche Bewohner:innen versuchen, sie zu überklettern. In vielen Einrichtungen sind daher schon lange Alternativen im Einsatz, welche die Mobilität weniger einschränken, z.B. Niederflurbetten. „Die Verwendung von durchgehenden Bettseitenteilen entspricht nicht dem Pflegestandard und bedeutet einen Rückschritt in der professionellen Pflege und Betreuung“, stellt Jaquemar klar.

Bei wiederkehrenden Überprüfungsbesuchen der Bewohnervertretung zeigt sich eine Negativspirale, die Bewohner:innen werden regelrecht in die Immobilität gepflegt: Weil es in den Einrichtungen zu wenig qualifiziertes Personal und eine hohe Fluktuation gibt, werden die Bewohner:innen zu wenig aktiviert und mobilisiert. Dazu kommen Bettruhezeiten teilweise schon am späten Nachmittag. Viele Bewohner:innen reagieren darauf mit Unruhe und Bewegungsdrang. Dagegen erhalten sie allzu oft sedierende Medikamente. Unter deren Einfluss erhöht sich jedoch das Sturzrisiko, weshalb die Menschen zusätzlich zu ihrem Schutz in den Sitzgelegenheiten mit Gurten fixiert oder im Bett mit Seitenteilen beschränkt werden. So verschlechtert sich ihr Allgemeinzustand jedoch noch schneller, noch mehr Muskeln werden abgebaut.

„Wir gehen davon aus, dass viele Freiheitsbeschränkungen unzulässig sind, weil sie aufgrund von Personalnot überhaupt erst gesetzt und Alternativen nicht ausreichend geprüft werden. Dadurch sind nicht nur Wohlergehen und Gesundheit der betreuten Menschen, sondern auch deren Grundrecht auf persönliche Freiheit akut gefährdet“, schildert Jaquemar die besorgniserregende Entwicklung der letzten Jahre.

Eine aktuelle Studie der Universität Innsbruck zur Praxis des Heimaufenthaltsgesetzes zeigt übrigens, dass der Einsatz von Freiheitsbeschränkungen in hohem Ausmaß auch von der Haltung der Pflegepersonen und von der Einrichtungskultur abhängig ist. Das deckt sich mit den Erfahrungen der Bewohnervertretung.

„Es braucht dringend bundesweit einheitliche Betreuungsstandards und – damit verbunden – eine Qualitätsoffensive für das Leben in Einrichtungen. Länder und Einrichtungsträger müssen viel mehr Ressourcen zur Verfügung stellen, damit Pflege- und Betreuungspersonen gute Arbeitsbedingungen vorfinden. Denn nur dann erhalten jene Menschen, die in Einrichtungen leben (müssen), eine bedürfnisgerechte Pflege und Betreuung, mit möglichst wenig Eingriffen in ihr Grundrecht auf Bewegungsfreiheit,“ fordert Jaquemar.


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Jahresbericht 2023