Eine Geschichte aus der Bewohnervertretung zeigt: Bleiben Freiheitsrechte von Heimbewohner:innen gewahrt, kann Enormes bewirkt werden
Mitte November 2022 wird Herr R. in einem steirischen Pflegeheim aufgenommen. Obwohl er erst Mitte 60 ist, hat er schon Pflegestufe 7. Diagnosen bei der Aufnahme: Delir, dekompensierte Leberzirrhose, alkoholbedingte Enzephalopathie.
Das Pflegeheim meldet an die Bewohnervertretung als nötige Freiheitsbeschränkungen für Herrn R. einen Therapietisch zur Körperfixierung und Psychopharmaka in hohen Dosierungen. Bewohnervertreterin Elke Schweder überprüfte die Meldungen vor Ort: „Als ich Herrn R. das erste Mal besuchte, ging es ihm sehr schlecht, er hatte kaum Oberkörperspannung und hing kraftlos in seinem Rollstuhl, ein Gespräch mit ihm war kaum möglich. Die Pflegedienstleiterin sagte zu mir, sie befürchte, dass der Herr nicht mehr lange leben würde.“
Im Dezember meldete man statt des Therapietisches eine Sitzhose inklusive Oberkörperfixierung, die Herrn R. im Rollstuhl stabilisieren sollte – eine noch intensivere Freiheitsbeschränkung, die aber schon einige Wochen später wieder entfernt wurde, ohne dass eine Intervention der Bewohnervertretung nötig war. Auch die Medikation für Herrn R. wurde rasch reduziert. Bei ihrem Kontrollbesuch traf Elke Schweder Herrn R., der nun selbstständig mit Hilfe eines Rollators mobil war. Er erzählte ihr, er hätte sich verliebt.
Über den Sommer und Herbst 2023 verbesserte sich der gesundheitliche Zustand von Herrn R. enorm, sodass schließlich keine Einzelfall-Medikation mehr erforderlich war. Ein halbes Jahr später, im Jänner 2024, notierte Elke Schweder: „Der Bewohner konnte wieder einmal nicht im Pflegeheim angetroffen werden, da er gerade alleine spazieren war. Laut Pflegedienstleitung sei Herr R. so fit, dass er eigentlich in der Einrichtung mitarbeiten könnte.“
Einige Wochen später gelang ein Kontakt. „Ich erkannte Herrn R. zunächst überhaupt nicht wieder“, erzählt Schweder. „Er sah frisch aus und strahlte. Er berichtete mir von seinen Spaziergängen in der Stadt und im Wald, und von den erfolgreichen physiotherapeutischen Übungen, die ihm gezeigt worden waren. Stolz schilderte er, dass er wieder Stiegen steigen kann und meinte, ‚mit 66 fängt das Leben bekanntlich erst an‘.“
Im März 2024 meldete sich Herr R. telefonisch bei der Bewohnervertreterin. „Er teilte mir mit, er hätte nun nur noch Pflegestufe 1 bekommen und müsse daher bis Ende des Monats aus dem Pflegeheim ausziehen, er wisse noch nicht, wohin.“ Während Schweder noch mit einer Kollegin aus der Erwachsenenvertretung beratschlagte, welche Kontaktdaten man Herrn R. für ein passendes Wohnangebot in der Region geben könnte, kam ein weiterer Anruf von Herrn R: Sein Sohn habe bereits eine kleine Wohnung für ihn gefunden, bis Ende des Monats müsse er „das Feld räumen“.
Ende März 2024 zog Herr R. schließlich aus dem Pflegeheim aus und lebt nun wieder selbständig. Es klingt wie ein Märchen. Elke Schweder: „Das ist wirklich ein sehr ungewöhnlicher Fall in unserem Berufsalltag.“ Was hat begünstigt, dass Herr R. sich so gut erholt hat, dass er sogar aus dem Pflegeheim wieder ausziehen konnte?
„Neben der Eigenmotivation des Bewohners war die gute Pflege ausschlaggebend – und die passenden Rahmenbedingungen dafür. Die verhältnismäßig kleine Einrichtung hat ein stabiles Team, das sehr präsent ist. Das fällt mir auf, denn wenn ich in manch andere Einrichtung komme, muss ich die Pflegepersonen erst mühsam suchen bzw. treffe ich Reinigungspersonen an, die mir nicht weiterhelfen können“, sagt Elke Schweder.
Sie nimmt wahr, dass man in dieser Pflegeeinrichtung genau analysiert, was die Bewohner:innen individuell brauchen. Mit der Bewohnervertretung arbeitet man gut zusammen. Freiheitsbeschränkungen werden umgehend gemeldet, reflektiert und sobald wie möglich wieder aufgehoben oder durch passende Alternativen ersetzt. Freiheitsbeschränkungen werden nicht überschießend angewendet, um „scheinbar“ Zeit zu sparen. Die Mitarbeiter:innen haben sich z.B. Zeit für das WC-Training mit Herrn R. genommen, anstatt ihn mit Inkontinenzprodukten zu versorgen.“
Herr R. erhielt außerdem Stehtraining, Physiotherapie und atemstimulierende Einreibungen sowie sehr viel Gruppen- und Einzelanimation. Auch die klare Tagesstruktur mit regelmäßigen Mahlzeiten und viel Bewegung – neben der Alkoholabstinenz – haben Herrn R. gut getan – so gut, dass er nun gar nicht mehr auf institutionelle Pflege angewiesen ist.
Susanne Jaquemar, Fachbereichsleiterin Bewohnervertretung, betont: „Die Geschichte zeigt, welche positiven Veränderungen möglich sind, wenn das Heimaufenthaltsgesetz korrekt umgesetzt wird. Wenn die Pflegepersonen über ausreichende Zeitressourcen verfügen und eine positive Grundhaltung in Bezug auf die Freiheitsrechte von Bewohner:innen haben, können sie deren Lebensqualität entscheidend verbessern“.