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Text von Stellenangeboten in einer Zeitung unter einer großen Lupe

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16.08.2023

Inklusiver Arbeitsmarkt ohne soziales Netz nicht zu haben

VertretungsNetz fordert Begleitmaßnahmen zu geplanten Gesetzesänderungen

Ein inklusiver Arbeitsmarkt existiert in Österreich derzeit nicht. Menschen mit Beeinträchtigungen bleiben oft ausgeschlossen. Auch die Forderung „Lohn statt Taschengeld“ in Behindertenwerkstätten ist noch nicht umgesetzt. Eine Gesetzesnovelle soll nun aber zumindest eine viel kritisierte Diskriminierung beseitigen: Menschen mit Behinderungen erhalten unabhängig vom Ausmaß ihrer Arbeitsfähigkeit bis zu ihrem 25. Lebensjahr gleichberechtigten Zugang zu den Unterstützungsleistungen des AMS und des Sozialministeriumservice, um die Chancen auf Ausbildung und Beschäftigung maßgeblich zu erhöhen.

Die geplanten Änderungen sind erfreulich. Es sind aber Begleitmaßnahmen nötig, um Menschen mit Behinderungen vor Armut zu bewahren, so VertretungsNetz in seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf. Der Verein vertritt ca. 5.750 Menschen mit psychischen oder intellektuellen Beeinträchtigungen als gerichtlicher Erwachsenenvertreter. Ein hoher Prozentsatz der Vereinsklient:innen ist armutsbetroffen und lebt in prekären Verhältnissen, knapp die Hälfte gilt als arbeitsunfähig. Mit dem Bezug von Sozialhilfe sowie erhöhter Familienbeihilfe für Menschen mit Behinderungen (derzeit ca. 400 Euro im Monat) geht sich nur ein sehr bescheidenes Leben aus, dies vor dem Hintergrund immer höherer Wohnkosten und steigender Inflation.

Aber: Die erhöhte Familienbeihilfe erhält nur, wer nachweisen kann, dass die intellektuelle oder psychische Beeinträchtigung, die zur Arbeitsunfähigkeit führte, vor dem 21. (bzw. unter bestimmten Umständen vor dem 25.) Lebensjahr eingetreten ist. „Die Begutachtungspraxis ist äußert rigide. Immer wieder kommt es zu Härtefällen, weil etwa eine psychische Erkrankung erst ,zu spät‘ diagnostiziert wird und Zeug:innenaussagen nicht gelten. Kann der Beweis nicht erbracht werden, fällt man auf die Sozialhilfe zurück“, schildert Martin Marlovits, stv. Fachbereichsleiter VertretungsNetz.  

VertretungsNetz fordert deshalb u.a., die Altersgrenzen im Familienlastenausgleichs­gesetz (FLAG) mit dem Ziel der Armutsbekämpfung abzuschaffen. Die Idee ist nicht neu: Bereits 2017 brachte die damalige grüne Behindertensprecherin Helene Jarmer einen (leider erfolglos gebliebenen) Initiativantrag ein, diese Altersgrenze zu streichen. „Denn der Bezug der erhöhten Familienbeihilfe entscheidet oft darüber, ob für Menschen mit Beeinträchtigungen eine eigenständige Lebensführung außerhalb eines Heims finanzierbar ist oder nicht“, so Marlovits.

Auch Erwerbsfähigkeit schützt nicht vor Armut

Aber auch als erwerbsfähig eingestufte Menschen mit intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigungen sind auf die Sozialhilfe angewiesen: aufgrund von schlechter Bezahlung, weil sie aufgrund ihrer Beeinträchtigung nur in geringerem Ausmaß arbeiten können oder gleich gar keinen Lehr- oder Arbeitsplatz bekommen. In Wien gilt z.B. eine 25-prozentige Kürzung der Sozialhilfe für unter 25jährige, die nicht in Beschäftigung, Ausbildung oder in einer Schulung sind. Menschen mit Beeinträchtigungen sind hiervon nicht ausgenommen. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass Schulungs- bzw. Kurs-Angebote für diese Personengruppe oft nicht existieren. Schließlich ist darauf zu achten, dass das AMS und die Sozialhilfebehörden individuelle Umstände berücksichtigen, wenn es z.B. um Sanktionen wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten geht.

Laut vorliegendem Gesetzesentwurf sollen Schulungs- und Wiedereingliederungs­maßnahmen nur jene Personen erhalten, die trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung „zumindest eingeschränkt bestimmte, auf dem Arbeitsmarkt noch bewertete Tätigkeiten ausüben“ können. Die defizitorientierte Unterscheidung „arbeitsfähig/nicht arbeitsfähig“ scheint also an anderer Stelle und unter anderem Namen wieder aufgenommen zu werden. Offen bleibt, wer diese Entscheidung zukünftig trifft – so wie es aussieht, der:die AMS-Betreuer:in. Den Leitlinien der UN-Behindertenrechts­konvention folgend wäre eine Abkehr von medizinisch- und defizit-orientierten Feststellungsverfahren hin zu multiperspektivischen und ressourcenorientierten Betrachtungsweisen angezeigt. Denn Artikel 27 der Konvention sieht einen Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt für alle Menschen mit Behinderungen vor.

Die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt ist eine wichtige Zielvorgabe des Bundesministeriums, um das Arbeitskräftepotenzial in Österreich voll auszuschöpfen. In den Erläuterungen zur Novelle des Arbeitsmarktservicegesetzes wird in Aussicht gestellt, dass das Sozialministeriumsservice (SMS) intensiv mit den Bundesländern zusammenarbeiten soll, um mehr Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen: Von der Akquisition geeigneter, zumutbarer Arbeitsstellen über die Beschaffung und Finanzierung der jeweils notwendigen technischen Ausstattung für den Arbeitgeber bis hin zur Klärung der jeweils individuellen Erfordernisse der Arbeitnehmer:innen spannt sich der Bogen. Das klingt ambitioniert. Umso mehr verwundert es, dass in der wirkungsorientierten Folgenabschätzung der Gesetzesänderung keine zusätzlichen Personalkosten für AMS und SMS vorgesehen sind.


Links

VertretungsNetz, 10. August 2023: Stellungnahme (PDF 218 KB) zum Entwurf eines Bundesgesetzes, mit dem das Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977, das Arbeitsmarktservicegesetz und das Ausbildungspflichtgesetz geändert werden

Parlament Österreich: Änderung Arbeitslosenversicherungsgesetz, Arbeitsmarktservicegesetz u.a. Überblick und eingelangte Stellungnahmen