Wir trauern um Jürgen Pelikan, der kürzlich im 84. Lebensjahr verstorben ist. Er gilt als "geistiger Vater" der Erwachsenenschutzvereine.
Jürgen Pelikan war lange Zeit Professor für Soziologie an der Universität Wien sowie Mitbegründer und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Medizin- und Gesundheitssoziologie (LBIGMS). Zusammen mit Rudolf Forster steuerte er wesentliche Impulse zur Psychiatriereform und zum Aufbau der Sachwalterschaft bei. In ihrer berühmten „Steinhof-Studie“ erhoben sie detailliert die erschütternden Lebensbedingungen in der österreichischen Anstaltspsychiatrie in den 1970er Jahren. Viele Patient:innen waren dort über Jahrzehnte angehalten, oft massiv hospitalisiert und traumatisiert durch Gewalterfahrungen.
Die Erfahrungen der Steinhof-Studie veranlassten Jürgen Pelikan dazu, in einer Veranstaltung zum Justizprogramm der SPÖ im Februar 1978 auf die prekäre Lage entmündigter und angehaltener Patient:innen aufmerksam zu machen, eine Erneuerung der gesetzlichen Grundlagen von Entmündigung und Anhaltung zu fordern und eine neue, sozialarbeiterische Einrichtung nach dem Modell der Bewährungshilfe zur Vertretung von angehaltenen und entmündigten Personen vorzuschlagen. Der bei dieser Veranstaltung anwesende Justizminister und -reformer Christian Broda griff diesen Vorschlag umgehend auf, berief eine Enquete ein, bei der er diesen Vorschlag ausdrücklich unterstützte und ließ erste Gesetzesentwürfe ausarbeiten, die ihn enthielten.
Auf Grund der breiten Zustimmung zu dieser neuen Einrichtung im Begutachtungsverfahren initiierte das Justizministerium ein Modellprojekt, dessen Träger der am 24. November 1980 gegründete „Verein für Sachwalterschaft“ (so der frühere Name von VertretungsNetz) war. Er sollte gleichsam als „Motor der Reform“ die veränderten Grundhaltungen des Rechtsschutzes und der Rechtsfürsorge für psychisch Erkrankte lebendig werden lassen. Zur Unterstützung und Beratung des Modellversuchs beauftragte das Justizministerium das LBIGMS mit einer „sozialwissenschaftlichen Begleitforschung“, die von Jürgen Pelikan geleitet und wieder gemeinsam mit Rudolf Forster umgesetzt wurde. Dabei kooperierten sie auf produktive Weise mit dem Modellprojektteam des Vereins und trugen wesentlich zur gesetzlichen Verankerung der „Vereinssachwalterschaft“ und deren organisatorischen Ausgestaltung bei.
Auch für die erst 1990 mit dem Unterbringungsgesetz (UbG) umgesetzte Reform des Anhalterechts stellten die Erfahrungen des Modellprojekts und die Forschungsergebnisse der Begleitforschung wichtige Erkenntnisse bereit. Im UbG verwirklichen die von den Vereinen bereit gestellten Patientenanwält:innen den einstigen Vorschlag Jürgen Pelikans für einen wirkungsvollen Rechtsschutz von zwangsweise untergebrachten Menschen in der Psychiatrie. Dass es zu einer Erweiterung dieses Rechtsschutz-Systems durch die seit 2004 im Heimaufenthaltsgesetz eingerichtete Bewohnervertretung kommen würde, die Freiheitsbeschränkungen auch in Wohn- und Pflegeeinrichtungen überprüft, war 1978 noch nicht absehbar gewesen. Das Rechtsgebiet entwickelt sich ständig weiter, wie zuletzt 2018 durch das Erwachsenenschutzgesetz, das die Selbstbestimmung Betroffener in den Mittelpunkt stellt.
Jürgen Pelikan hat all diese wichtigen rechtspolitischen Entwicklungen über die Jahrzehnte mit Aufmerksamkeit verfolgt und VertretungsNetz immer wieder wichtige Impulse gegeben, die unsere Mitarbeiter:innen bis heute bei ihrer Tätigkeit inspirieren. Bis zuletzt hatte er als Vorsitzender des Beirats eine wichtige Funktion im Verein inne. Vielen Kolleg:innen sind seine Vorträge bei Fachveranstaltungen in Erinnerung geblieben. Öffentlich immer vorsichtig-zurückhaltend ließ er seine Befriedigung, ja Freude, über die nachhaltige Umsetzung und Weiterentwicklung seines einstigen Vorschlags im engeren Kreis jener Personen, die dafür Verantwortung trugen, durchaus erkennen.
Jürgen Pelikans innovativer und an der praktischen Umsetzung von Sozialforschung orientierter Zugang schlug sich in vielen anderen gesundheitspolitisch wichtigen Beiträgen nieder, insbesondere beim „Gesundheitsfördernden Krankenhaus“, bei der Einrichtung niedrigschwelliger Gesundheitsinformation und -beratung und bei der Verbesserung von Gesundheitskompetenz, an deren Konzeptualisierung und Messung er trotz krankheitsbedingter Einschränkungen bis zuletzt arbeitete.
Mit ihm verliert der Verein einen kritisch-wachen Beobachter, einen stets anregenden Begleiter und einen für die Interessen der Schwachen und Benachteiligten unserer Gesellschaft engagierten Partner.
In der Weiterführung unserer Arbeit an dem seinerzeit von ihm initiierten Reformprojekt werden wir Jürgen Pelikan immer in Dankbarkeit verbunden bleiben.