VertretungsNetz zum Tag der Menschenrechte: Moderne und strenge Gesetze sollen Zwangsbehandlungen verhindern. Die Rechtslücke im Maßnahmenvollzug bleibt bestehen.
Mit dem Erwachsenenschutzgesetz wurde vor einigen Jahren neu geregelt, wie vorzugehen ist, wenn jemand in Bezug auf eine medizinische Behandlung nicht entscheidungsfähig ist, z.B. aufgrund von intellektueller Beeinträchtigung oder psychischer Erkrankung. Was viele nicht wissen: Auch wer eine Erwachsenenvertretung hat, entscheidet grundsätzlich selbst über eine Behandlung, wenn er oder sie deren Zweck und Folgen versteht.
Die behandelnden Ärtz:innen müssen Patient:innen auf jeden Fall in einer für sie verständlichen Art und Weise über die Behandlung aufklären. Wenn nötig, wird ein Unterstützerkreis aus Angehörigen oder anderen Vertrauenspersonen beigezogen. „Erst wenn trotz dieser Bemühungen die Entscheidungsfähigkeit in Bezug auf die Behandlung nicht hergestellt werden kann, darf ein:e Erwachsenenvertreter:in stellvertretend für eine:n Betroffene:n entscheiden. Man muss aber für den Wirkungskreis der Gesundheitsthemen bestellt sein und sich am Willen der betroffenen Person orientieren“ erklärt Martin Marlovits, stv. Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz.
In der Praxis ist die Regelung allerdings noch zu wenig bekannt. Betroffene werden nicht ausreichend in Entscheidungsprozesse eingebunden. „Als Ende 2020 die Covid-Impfungen in Seniorenheimen anliefen, ersuchten manche Einrichtungen die Erwachsenenvertreter:innen um eine Zustimmungserklärung zur Impfung“, berichtet Marlovits. Das war gesetzwidrig, denn man muss die Betroffenen selbst entscheiden lassen, wenn sie es können. Was aber, wenn jemand nicht entscheidungsfähig ist, und wenn der/die Erwachsenenvertreter:in entscheidet, aber die betroffene Person die Behandlung trotzdem nicht will? Darf dann zwangsweise behandelt werden?
Falls nicht „Gefahr in Verzug“ ist, also Leben und Gesundheit akut bedroht sind, lautet die Antwort „Nein“. Das Gericht entscheidet in solchen Dissens-Fällen, ob die medizinische Behandlung genehmigt wird. Im Verfahren wird der/dem Betroffenen ein „besonderer Rechtsbeistand für medizinische Behandlungen“ zur Seite gestellt. Diese Aufgabe übernehmen die Erwachsenenschutzvereine. Wieder am Beispiel Covid: VertretungsNetz hat in den letzten Jahren einige Verfahren begleitet, in denen sich Bewohner:innen von Behinderten- oder Pflegeeinrichtungen impfen lassen wollten – ihre Erwachsenenvertreter:innen aber dagegen waren.
„Die Verfahren im Rahmen des besonderen Rechtsbeistands sind komplex, aber wichtig, weil es manchmal einen Blick von außen auf die Behandlung braucht“, so Bernhard Rappert, Fachbereichsleiter Patientenanwaltschaft. Denn Menschen mit psychischen Erkrankungen oder intellektuellen Beeinträchtigungen gelten schnell als „kompliziert“ bzw. verhaltensauffällig – und dann wird mitunter vorschnell gehandelt oder übers Ziel hinausgeschossen. Da werden Zähne gleich gerissen, anstatt repariert, Gliedmaßen amputiert oder sogar Sterilisationen empfohlen, „zur Sicherheit“.
So war VertretungsNetz zum „besonderen Rechtsbeistand“ für einen ca. 60jährigen Mann mit intellektueller Beeinträchtigung bestellt. Aufgrund einer Sepsis sollte ihm ein Bein amputiert werden, die Erwachsenenvertreterin gab ihr Einverständnis, doch der Patient weigerte sich. Im darauffolgenden Gerichtsverfahren wurden alternative Behandlungsmethoden gefunden, die Sepsis heilte ab, und der Herr konnte sein Bein letztendlich behalten. Eine Erfolgsgeschichte – weil der Wille des Betroffenen ernst genommen wurde, auch wenn er nicht entscheidungsfähig war.
Mit der Novelle des Unterbringungsgesetzes, die nächstes Jahr in Kraft tritt, versucht der Gesetzgeber nun auch im psychiatrischen Kontext mehr Selbstbestimmung zuzulassen. „Derzeit ist es so, dass bei nicht entscheidungsfähigen Personen ohne Erwachsenenvertretung der Arzt bzw. die Ärztin über die meisten medikamentösen Behandlungen entscheidet. Um das durchzusetzen, werden Menschen mitunter sogar am Bett mit Gurten fixiert“, schildert Rappert. In Zukunft muss (sofern nicht Gefahr in Verzug ist) vorher gerichtlich geprüft werden, wenn der/die Betroffene das möchte. „Die Patientenanwält:innen werden hier genau hinschauen, damit dieser Rechtsschutz wirklich ins Leben kommt.“
Auch während einer psychiatrischen Unterbringung müssen Ärzt:innen im Vorfeld einer medizinischen Behandlung versuchen, die Entscheidungsfähigkeit des/der Betroffenen durch Aufklärung und Beiziehung von unterstützenden Personen herzustellen. Diese neuen Regelungen sind eine Chance, findet der Patientenanwalt. „Wir hören immer wieder, dass Patient:innen die Medikamente, die im Spital zwangsweise gegeben wurden, daheim wieder absetzen. Wenn ich als Patient aber erlebe, dass meine Wünsche und Erfahrungen ernst genommen werden, und ich auf Augenhöhe mitentscheiden kann, dann fördert das eine nachhaltige Behandlung“. Nicht in jeder Situation ist Dialog möglich, ist Rappert bewusst, „aber es ist wichtig, Zwang wo immer es geht, zu vermeiden.“
Personen mit einer psychischen Erkrankung, die im Maßnahmenvollzug untergebracht sind, können hingegen von Rechtsschutz weiterhin nur träumen. Zwangsbehandlungen sind in § 69 Strafvollzugsgesetz geregelt. Verweigert ein:e Strafgefangene:r „trotz Belehrung die Mitwirkung“ an einer erforderlichen Heilbehandlung, kann er auch dazu gezwungen werden. Eigentlich müsste vor jeder Zwangsbehandlung die Genehmigung des Justizministeriums eingeholt werden. Bei fehlender Entscheidungsfähigkeit müsste zudem die:der Erwachsenenvertreter:in eingebunden werden.
In der Praxis läuft es oft anders: „Unsere Klient:innen im Maßnahmenvollzug berichten uns, dass ihnen klar zu verstehen gegeben wird: Falls sie einer Behandlung nicht zustimmen, dann haben sie keine Aussicht auf Lockerungen im Vollzug und bleiben lebenslang untergebracht. Auf diese Weise zwingt man sie z.B. zu Depotspritzen oder zur Einnahme von antiandrogenen Wirkstoffen, die männliche Sexualhormone blockieren“, berichtet Marlovits. Manche Einrichtungen verweigern Erwachsenenvertreter:innen auch die Einsicht in Behandlungspläne oder Medikamentenlisten.
„Auch wenn jemand aus Angst vor Konsequenzen einer Behandlung scheinbar zustimmt, handelt es sich um eine Zwangsmaßnahme“, stellt Bernhard Rappert klar. Inhaftierte Personen mit psychischer Erkrankung haben derzeit aber niemanden, der ihre Patient:innenrechte einfordert und sie gegenüber der Einrichtung vertritt, in der sie untergebracht sind. Niemand überprüft, ob die gesetzten Freiheitsbeschränkungen rechtmäßig sind. VertretungsNetz fordert, dass – analog zur Regelung in psychiatrischen Krankenhäusern – auch im Maßnahmenvollzug Patientenanwält:innen tätig werden können. Dafür braucht es dringend eine Reform der Bestimmungen zum Vollzug und damit auch zur Behandlung im Maßnahmenvollzug.