Nachfolgeregelung der „Mindestsicherung“: VertretungsNetz warnt vor Konsequenzen
Der Entwurf der Bundesregierung zum neuen Sozialhilfe-Grundsatzgesetz bringt für viele Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Angehörigen eine dramatische Reduktion des Haushaltseinkommens. Wie drastisch die finanziellen Einbußen ausfallen, zeigt eine Gegenüberstellung der derzeitigen Rechtslage in Wien mit der durch die Reform geplanten Änderung.
Dazu ein Rechenbeispiel: Eine erwachsene Frau mit intellektueller Beeinträchtigung lebt gemeinsam mit ihrer Mutter in einem Haushalt in Wien. Die Tochter ist nicht selbsterhaltungsfähig. Die beiden Frauen bestreiten ihren Lebensunterhalt mit der kleinen Pension der Mutter und der erhöhten Mindestsicherungsleistung, die der Tochter aufgrund ihrer Beeinträchtigung zusteht.
So haben sie 2.174 Euro pro Monat zur Verfügung. Nach der neuen Gesetzgebung würden ihnen lediglich 1.322 Euro zustehen. „Das ist eine Verringerung des Haushaltseinkommens um fast 40%“, zeigt sich Christian Aigner, Fachbereichsleiter Erwachsenenvertretung bei VertretungsNetz, im Namen vieler KlientInnen entsetzt.
Massive Nachteile für Betroffene und ihre Familien
Wie kommt diese Kürzung zustande? Das Einkommen der Mutter als unterhaltspflichtige Angehörige würde nach der neuen Rechtslage zur Berechnung des Leistungsanspruchs beider Personen herangezogen. Außerdem entfällt die Zahlung für den Wohnbedarf, da die Betroffene mit einem pflegenden Elternteil im gemeinsamen Haushalt lebt. Für die Tochter verbleibt lediglich die Zusatzleistung für Behinderung.
„Mit diesen Bestimmungen, die in einzelnen Bundesländern bereits bei der aktuellen Mindestsicherung in Kraft sind, wird nicht nur ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Beeinträchtigungen verhindert. Auch die psychisch und physisch belastende Arbeit von pflegenden Angehörigen wird entwertet. Sie zahlen für ihr Engagement auch noch drauf, weil die Leistung für die pflegende Person gekürzt wird“, warnt Aigner. „Wer pflegt, darf nicht der Dumme sein!“
Erschwerend kommt für Menschen mit Beeinträchtigungen dazu, dass ihre Eltern für sie ein Leben lang unterhaltspflichtig bleiben. „Man kann sich vorstellen, dass dies die Familienbeziehungen massiv belastet“, gibt Aigner zu bedenken. „Eltern von erwachsenen Menschen mit Behinderungen sollten genauso wie alle anderen Eltern aus der Unterhaltspflicht entlassen werden, zum Beispiel mit dem 25. Lebensjahr des Kindes“.
Viele junge Erwachsene mit intellektuellen Beeinträchtigungen leben weitgehend selbstständig in teilbetreuten Wohngemeinschaften. Doch auch für diese Wohnformen gilt, dass das Einkommen von im Haushalt lebenden Personen angerechnet wird. VertretungsNetz fordert daher, dass Menschen mit Behinderungen ein ungeschmälerter Anspruch auf Unterstützung zugestanden wird, egal mit wem sie leben.
Gekürzt wird schon jetzt
Das eingangs geschilderte Rechenbeispiel ist schon aktuell Realität für viele Menschen: Denn in Niederösterreich sind die bundesweit geplanten Regelungen schon im Mindestsicherungsgesetz in Kraft. So wurde etwa der Antrag einer Klientin von VertretungsNetz auf eine Leistung aus der bedarfsorientierten Mindestsicherung abgelehnt. Die Begründung: Das anrechenbare Einkommen ihrer Mutter (966,27 Euro Pension) sei zu hoch. Die finanzielle Situation der Familie bleibt höchst prekär.
VertretungsNetz versucht, auf juristischem Weg betroffenen KlientInnen zu ihrem Recht zu verhelfen und damit ihren Lebensunterhalt zu sichern. Christian Aigner: „Vor kurzem haben wir eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof eingebracht. An den Gesetzgeber appellieren wir, von Selbstbestimmung für Menschen mit Beeinträchtigungen nicht nur zu reden, sondern sie auch praktisch zu ermöglichen.“
Links:
VertretungsNetz: Stellungnahme zum Sozialhilfe-Grundsatzgesetz
Norbert Krammer, Ilse Zapletal: Hol dir dein Recht! Mit Recht gegen Armut. In: Armutskonferenz (Hrsg.): ACHTUNG – Abwertung hat System. Vom Ringen um Anerkennung, Wertschätzung und Würde. ÖGB-Verlag Dezember 2018, S. 205-208.