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Ein Mädchen (Rückenansicht) versucht, eine verschlossene Zimmertür zu öffnen

Johannes Zinner

02.08.2023

OGH bestätigt: Einsperren von 9-jährigem Mädchen war unzulässige Beschränkung

Bewohnervertretung: Widerstand gegen das Heimaufenthaltsgesetz kostet Kinder den Grundrechtsschutz

Seit Mitte 2018 gilt das Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG) auch in Wohneinrichtungen für Kinder und Jugendliche. Freiheitsbeschränkungen wie etwa das Festhalten während Impulsdurchbrüchen oder die Gabe beruhigender Medikamente sind damit nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und müssen von den Einrichtungen an die Bewohnervertretung gemeldet werden.

2020 überprüfte die Bewohnervertretung die Freiheitsbeschränkung an einer 9-jährigen Bewohnerin in der Steiermark. Das Mädchen litt an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, bedingt durch jahrelang erlebte Gewalt im Elternhaus. Immer wieder kam es zu Impulsdurchbrüchen mit Selbstverletzungen, großer Wut und Traurigkeit. Dann eskalierte ein Streit unter mehreren Kindern in der WG, die 9-Jährige bedrohte einen Mitbewohner. Die Betreuer:innen sperrten das Mädchen, welches eine Glasscherbe bei sich hatte, in dieser akuten Situation gemeinsam mit einer Mitbewohnerin für kurze Zeit in ihr Zimmer.

„Wir haben bei Gericht beantragt, diese Freiheitsbeschränkung zu überprüfen. Denn aus unserer Sicht war diese Maßnahme zur Gefahrenabwehr denkbar ungeeignet“, erklärt Grainne Nebois-Zeman, stv. Fachbereichsleitung Bewohnervertretung. Die Einrichtungsleitung argumentierte dagegen: Erstens weise die Traumafolgestörung des Mädchens nicht den Schweregrad einer psychischen Erkrankung auf, weshalb das Heimaufenthaltsgesetz gar nicht anzuwenden sei. Weiters sei das Einsperren eines Kindes in ein Zimmer eine „alterstypische“ pädagogische Maßnahme.

Schon das Erstgericht folgte der Rechtsansicht von VertretungsNetz. Die Maßnahme sei zur Abwendung der Gefahr nicht geeignet gewesen und hätte darüber hinaus die miteingeschlossene Mitbewohnerin gefährdet. Die Einrichtungsleitung brachte Rechtsmittel gegen die bezirksgerichtliche und die ebenfalls die Geltung des HeimAufG bestätigende landesgerichtliche Entscheidung ein.

In letzter Instanz stellte der OGH nun klar, dass es sich bei der getroffenen Maßnahme ohne Zweifel um eine Freiheitsbeschränkung gehandelt hat und um keine bloße Erziehungsmaßnahme. Diese war ungeeignet zur Gefahrenabwehr und daher unzulässig. Die OGH-Entscheidung enthält darüber hinaus wertvolle Klärungen zum Rechtsbegriff der psychischen Erkrankung im Kindes- und Jugendalter.

„Mit dieser Entscheidung wird noch einmal klargestellt, dass es in sozialpädagogischen Einrichtungen sehr wohl zu Freiheitsbeschränkungen kommt und dass dabei strenge Regeln einzuhalten sind“, so Nebois-Zeman. Leider gibt es nämlich von Seiten einiger Länder (denen verwaltungsrechtlich die Aufsicht über Kinder- und Jugendeinrichtungen zukommt) massiven Widerstand gegen die Umsetzung des Heimaufenthaltsgesetzes. So ist z.B. die Steiermark der Rechtsansicht, dass keine ihrer sozialpädagogischen Wohneinrichtungen unter den Anwendungsbereich des Gesetzes fällt. Daher kommen viele Einrichtungen ihrer Meldeverpflichtung nicht nach. „Kindern und Jugendlichen wird dadurch der Rechtsschutz genommen, der ihnen verfassungsgesetzlich zusteht“, kritisiert Nebois-Zeman.

Anstatt zügig zu klären, ob bestimmte Freiheitsbeschränkungen an Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen zu Recht erfolgen oder nicht, führen die Bedenken einzelner Länder, ob denn das zugrunde liegende Bundesgesetz in der jeweiligen Einrichtung überhaupt anwendbar sei, zu höchst aufwändigen und langwierigen Verfahren. Nebois-Zeman: „Es ist für uns nicht nachvollziehbar, dass ein Bundesgesetz über bald sechs Jahre durch einzelne Länder und Träger mit dieser Hartnäckigkeit blockiert wird – auf Kosten von Kinderrechten.“

Links: 

OGH-Entscheidung 7 Ob 34/23k

Gudrun Strickmann: Rückenwind für Kinderrechte in der Fremdunterbringung. Kommentar zu OGH 24. 5. 2023, 7 Ob 34/23k. iFamZ, Oktober 2023, S. 282-284