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11.12.2024

OGH: Nur Fachkräfte dürfen pflegerische Freiheitsbeschränkungen in Behinderteneinrichtungen anordnen

VertretungsNetz – Bewohnervertretung erzielt wichtige höchstgerichtliche Entscheidung

Frau E. wohnt in einer Wiener Behinderteneinrichtung, aufgrund ihrer körperlichen und intellektuellen Beeinträchtigungen ist sie stark pflegebedürftig. Im Februar 2024 meldete die Leiterin der Einrichtung – wie im Heimaufenthaltsgesetz vorgesehen – eine Freiheitsbeschränkung an VertretungsNetz: Nach einer Operation war für Frau S. ein Seitenteil am Bett im Einsatz, um zu vermeiden, dass sie nachts aus dem Bett stürzte.

Im Zuge der Überprüfung durch die Bewohnervertretung stellte sich heraus, dass die Bewohnerin tagsüber in einem unpassenden, für sie viel zu großen, alten Rollstuhl saß. Um ein Herausrutschen zu vermeiden, hatte man sie mit einem Bauch- und Brustgurt darin fixiert und unter den Gurt einen Polster geklemmt. Die Absätze ihrer Schuhe hatte man „aufgedoppelt“, da ihre Füße sonst nicht den Boden berührt hätten. Eine Vorgehensweise, die nicht den fachlichen Standards der Pflege entspricht. Die Gurte waren darüber hinaus nicht wie gesetzlich vorgeschrieben an die Bewohnervertretung gemeldet worden.

Beide Freiheitsbeschränkungen, die Gurte und das Seitenteil am Bett, wurden von der Einrichtungsleiterin angeordnet, die keine pflegerische oder ärztliche Ausbildung hat. Sowohl für das Seitenteil, als auch für die Gurte hätte es nach Einschätzung der Bewohnervertretung schonendere Maßnahmen gegeben, welche die Lebensqualität und die Bewegungsfreiheit von Fr. E. nicht so stark eingeschränkt hätten. VertretungsNetz beantragte daher eine gerichtliche Überprüfung.

Schon das Erstgericht stellte fest, dass die Maßnahmen unzulässig, weil unprofessionell waren. Außerdem hätten sie an die körperliche Befindlichkeit der Bewohnerin angeknüpft und der unmittelbaren Gefahrenabwehr (Sturzgefahr und Instabilität) gedient. Sie waren daher als pflegerische Maßnahmen zu qualifizieren, die von einem:einer diplomierten Gesundheits‑ und Krankenpfleger:in (DGKP) anzuordnen gewesen wären.

Keine Anordnungsbefugnis ohne Expertise

Nach Rechtsmitteln der Einrichtungsleitung befasste sich der Oberste Gerichtshof mit der Frage, ob Leiter:innen von Behinderteneinrichtungen auch dann pflegerische Freiheitsbeschränkungen anordnen dürfen, wenn sie über keine ärztliche oder pflegerische Ausbildung verfügen, also z.B. Sozialbetreuer:innen sind.

Der OGH bestätigte nun, dass es sehr wohl eine pflegerische Ausbildung braucht, um Maßnahmen anordnen zu dürfen, die derart in die körperliche Befindlichkeit eingreifen. Ist in einer Einrichtung kein:e Gesundheits- und Krankenpfleger:in angestellt, so muss für die Anordnung pflegerischer Freiheitsbeschränkungen eine Pflegekraft von außen betraut werden, sprich: man muss sich die Expertise „zukaufen“.

Grainne Nebois-Zeman, Fachbereichsleiterin der Bewohnervertretung, begrüßt die Entscheidung: „Diese Klarstellung ist sehr wichtig. Denn immer wieder sehen unsere Mitarbeiter:innen bei Überprüfungen, dass Bewohner:innen unsachgemäß in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt werden. Da werden Leintücher zusammengebunden, Gurtsysteme selbst gebastelt und Ähnliches – im schlimmsten Fall mit großen Gefahren für die Gesundheit von Bewohner:innen. Wer befugt ist, in die körperliche Bewegungsfreiheit von Menschen mit Behinderungen einzugreifen, muss auch die nötige Expertise dafür mitbringen – also eine entsprechende Ausbildung haben. Denn nur so ist auch abschätzbar, welche Alternativen oder schonendere Maßnahmen in gewissen Situationen in Betracht kommen könnten“.

Link zur Entscheidung: 
OGH | 7 Ob 141/24x | 23.10.2024