Daten der Patientenanwaltschaft zeigen Rückgang von Freiheitsbeschränkungen
Im Verbund mit der Volksanwaltschaft und anderen Menschenrechtsorganisationen hatte sich VertretungsNetz jahrzehntelang für eine Abschaffung von Netzbetten stark gemacht. Mit Erfolg: Ab Juli 2015 wurden „psychiatrische Intensivbetten“ als Beschränkungsmaßnahme per Erlass des Gesundheitsministeriums verboten. Die neue Vorgabe wurde in der Fachwelt zu Beginn heftig diskutiert: Die Befürchtung mancher ExpertInnen war, dass an Stelle der Netzbettbeschränkungen mehr Gurtfixierungen gesetzt werden würden. VertretungsNetz hat anhand der Zahlen aus dem Dokumentationssystem der Patientenanwaltschaft überprüft, ob sich diese Befürchtung bewahrheitet hat.
„Wir haben die Verwendung von Netzbetten immer kritisiert, weil sie viel zu rasch, zum Teil repressiv, und zum Ausgleich fehlender Alternativen eingesetzt wurden. War ein Netzbett erst einmal verschlossen, war die betroffene Person vermeintlich sicher versorgt und wurde alleingelassen. Das hatte mitunter schwerste Selbstverletzungen bis hin zu einem Suizid in einem Netzbett zur Folge. Besonders dramatisch fand ich, wenn auch sehr alte Menschen stundenlang in Netzbetten gesperrt wurden, nur damit sie nicht aus dem Bett fallen können“, schildert Bernhard Rappert, Fachbereichsleiter der Patientenanwaltschaft bei VertretungsNetz die Problematik. 31 Stunden betrug etwa die durchschnittliche Beschränkungsdauer im Netzbett pro Wiener Patient/in im Februar 2014.
Ohne Netzbetten wird weniger beschränkt
Eine Auswertung zu Häufigkeit und Dauer der Fixierungen vor und nach Abschaffung der Netzbetten in Wiener Spitälern zeigt nun: Kurz nach der Abschaffung der Netzbetten 2015 ist die Häufigkeit von zwangsweisen Fixierungen für kurze Zeit tatsächlich angestiegen. Doch schon im September 2017 lag die „Fixierungsquote“ – also wie viele zwangsweise untergebrachte PatientInnen aufgrund einer akuten Gefährdungssituation fixiert werden – wieder auf dem ursprünglichen Niveau von 20%. Es scheint gelungen zu sein, in Situationen, in denen früher ein Netzbett verwendet wurde, ohne Fixierung auszukommen.
Die sogenannte „Beschränkungsquote“ ist der Anteil der Unterbringungen, bei denen PatientInnen irgendeiner „weitergehenden Beschränkung“ unterworfen sind. Das können Gurtfixierungen und Netzbettaufenthalt sein, aber auch Seitenteile am Bett oder eine verschlossene Zimmertür. Diese Beschränkungsquote lag in Wien bis 2014 bei 62%. Zwischen 2015 und 2017 sank dieser Wert auf 47,7%. Für den Patientenanwalt Rappert ein Erfolg: „Das bedeutet weniger Eingriffe in das Grundrecht der PatientInnen auf persönliche Bewegungsfreiheit“.
Die Gesamtdauer von Netzbettbeschränkungen und Fixierungen reduzierte sich um 55,3%. Das bedeutet, dass jede betroffene Person heute im Durchschnitt um rund 17 Stunden kürzer von einer solchen Maßnahme betroffen ist als vor Abschaffung der Netzbetten.
Zuwendung und Rückzugsmöglichkeiten von enormer Bedeutung
Die Daten und Erfahrungen der Patientenanwaltschaft zeigen aber noch mehr: Dort, wo moderne Raum- und Ausstattungskonzepte zum Einsatz kommen, reduziert sich das Anspannungs- und Angstpotential der PatientInnen. Dadurch kommt es letztlich viel seltener zu kritischen Situationen, in denen das Personal überhaupt erst Zwangsmaßnahmen setzen muss.
„Zeitgemäße räumliche Strukturen wie etwa 1-2 Betten pro Zimmer und großzügig geplante Rückzugsräume sind entscheidend. Aber auch die Aufstockung von qualifiziertem Fachpersonal muss für die Krankenhausträger oberste Priorität haben. Denn menschliche Zuwendung ist in der psychiatrischen Behandlung das Wichtigste. „Einschränkungen der Bewegungsfreiheit müssen, soweit es geht, verhindert werden“, so Rappert. „Schließlich geht es hier auch um Grundrechte“.
Link:
Bernhard Rappert: Abschaffung der Netzbetten: Auswirkungen in der Psychiatrie, In: ÖZPR 4/2020. Quelle: Manz Verlag