VertretungsNetz empfiehlt, Gesetzesentwurf zu präzisieren.
Mit dem 1. COVID-19-Justiz-Begleitgesetz wurde für zivilgerichtliche Verfahren die Möglichkeit eingeführt, mündliche Verhandlungen und Anhörungen ohne persönliche Anwesenheit der Parteien unter Verwendung technischer Kommunikationsmittel zur Wort- und Bildübertragung durchzuführen – also als „Videokonferenz“. Nun werden einige Gesetze geändert, um Videoverhandlungen auch im „Dauerrecht“ zu ermöglichen.
Laut vorliegendem Entwurf kann das Gericht Anhörungen im Fall einer „allgemein vorherrschenden Krisensituation“ als Videoverhandlung stattfinden lassen, wenn andernfalls „die Gesundheit einer am Verfahren beteiligten Person ernstlich gefährdet“ wäre. VertretungsNetz verlangt in seiner parlamentarischen Stellungnahme einige Präzisierungen im vorliegenden Gesetzesentwurf. Denn die Novelle betrifft auch Unterbringungs-, Erwachsenenschutz- und Heimaufenthaltsgesetz.
Wenn jemand z.B. in einer psychiatrischen Abteilung gegen den eigenen Willen untergebracht ist, überprüft nach spätestens vier Tagen ein:e Richter:in, ob der Freiheitsentzug rechtmäßig ist. Diese Unterbringungsverhandlungen finden direkt im Krankenhaus statt. Während der Covid-Pandemie wich man einige Zeit lang auf Videoverhandlungen aus. Auch die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen laut Heimaufenthaltsgesetz fand auf diese Weise statt.
Schlechte Erfahrungen mit Videoverhandlungen
Insbesondere in den Unterbringungsverhandlungen zeigte sich schnell: Videositzungen waren für viele Patient:innen mit Nachteilen verbunden. Wer durch Medikation und/oder Erkrankung beeinträchtigt ist, kann in vielen Fällen nur schwer der Verhandlung folgen bzw. ihren Inhalt verarbeiten. Es ist schwieriger, die beteiligten Personen und deren Rollen zu erkennen und vom Fragerecht Gebrauch zu machen. Auch Körpersprache ist oft nicht gut erkennbar. Vor allem ältere Menschen sind unsicher und mit der Technik nicht vertraut.
Die technische Ausstattung bei Gericht oder im Krankenhaus erwies sich oft als mangelhaft. Stabile Internetverbindung, funktionierende Hard- und Software, unverpixeltes Bild und klarer Ton – bei weitem nicht selbstverständlich. Die Patientenanwaltschaft legte daher schon während der Pandemie Standards für Videoverhandlungen vor, die auf jeden Fall erfüllt werden sollten.
Noch eine unangenehme Erfahrung: Einzelne Richter:innen weigerten sich auch zu einer Zeit, als die Gefahr einer Covid-Infektion durch diverse Schutzmaßnahmen nur noch gering war, Verhandlungen in Präsenz durchzuführen. Der Verdacht lag nahe, dass sie Videoverhandlungen einfach bequem fanden. Dadurch sind aber Patient:innenrechte in Gefahr. Denn der persönliche Eindruck, den sich das Gericht verschaffen sollte, ist ein zentrales Element des Rechtsschutzes.
VertretungsNetz fordert vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen, dass sich Videoverhandlungen sowohl für den Verfahrensgegenstand als auch für die beteiligten Parteien und deren individuelle Voraussetzungen eignen müssen. In Verfahren nach dem Heimaufenthalts- und Unterbringungsgesetz soll es Videoverhandlungen nur im Notfall geben, mit klar definierten Regelungen. Sie müssen zur Abwehr einer ernstlichen und erheblichen Gefahr unerlässlich und geeignet sowie im Verhältnis zur Gefahr angemessen sein.
Unerlässlich wären Videoverhandlungen nur, wenn alternative Schutzmaßnahmen (während einer Epidemie z.B. Schutzausrüstung, Atemschutzmasken, räumliche Vorkehrungen etc.) nicht zur Verfügung stünden. Jedenfalls aber müsste die Gefahrensituation objektivierbar sein. Die Beurteilung, ob eine solche Situation vorliegt, darf nicht im freien Ermessen erfolgen, sondern muss sich z.B. aus einer Verordnung des Justizministeriums ergeben, in der eine Notfallsituation feststellt wird. So ist eine einheitliche Handhabung gesichert.
Auf umfassende Barrierefreiheit achten
Für alle Gerichtsverhandlungen wichtig, aber umso mehr für Videoverhandlungen: Das Augenmerk muss auf umfassender Barrierefreiheit unter Einbezug aller Dimensionen (physisch, kommunikativ, intellektuell, sozial, ökonomisch, institutionell) liegen. Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen oder psychischen Erkrankungen muss Assistenz und Unterstützung angeboten werden, damit das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention) und der gleichberechtigte Zugang zum Recht (Art. 13 UN-Behindertenrechtskonvention) gewährleistet sind.
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