Die Zahl der Freiheitsbeschränkungen durch Medikamente steigt
Im Jahr 2007 verzeichnete die Bewohnervertretung in sieben Prozent der Fälle eine Freiheitsbeschränkung durch Medikation. Fünf Jahre später waren es bereits 35 Prozent aller Fälle. Ein rapider Anstieg mit weitreichenden Folgen, vor allem für die Betroffenen.
Herr A. ist 81 Jahre alt und lebt in einer Senioreneinrichtung. Er ist an Demenz erkrankt, zeigt Anzeichen des Parkinson-Syndroms und leidet an verschiedenen somatischen Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel Herzrhythmusstörungen.
Er verhält sich manchmal aggressiv, sucht fremde Zimmer auf und will die Einrichtung verlassen. Er weist psychotische Denkinhalte mit Halluzinationen und paranoiden Ängsten auf. Darüber hinaus ist er sturzgefährdet.
Herr A. bekommt verschiedene Medikamente dauerhaft verabreicht, ergänzt um ein Präparat, das im Bedarfsfall zum Einsatz kommt.
Als die Bewohnervertretung im Fall von Herrn A. aktiv wurde, führte sie mehrere Gespräche in der Einrichtung und beantragte eine gerichtliche Überprüfung sowie die Beziehung von Sachverständigen aus den Bereichen Medizin und Pflege.
Als Folge wurden bei Herrn A. die Medikamente wegen zu starker Nebenwirkungen nach und nach abgesetzt. Sein Tagesablauf wurde fortan mit verschiedenen Aktivitäten, wie zum Beispiel einer Tiertherapie, gestaltet.
Bereits nach drei Wochen konnte die Bewohnervertretung positive Veränderungen feststellen: Herr A. war deutlich wacher und konnte seine Bedürfnisse und Empfindungen wieder klarer vermitteln. Auch das Sturzrisiko sank deutlich.
Risiken bei Medikation
Fälle wie jener von Herrn A. gehören zur täglichen Aufgabe der Bewohnervertretung. Seit 2009 konzentriert sie sich in ihrer Arbeit stärker auf die freiheitsbeschränkenden Auswirkungen von Medikamenten. Dabei stößt sie auf Widerstand vor allem bei den Ärztinnen und Ärzten, die häufig behaupten, mit ihren Medikamentenverschreibungen nur therapeutisch tätig zu sein.
Die Erfahrung der Bewohnervertretung zeigt, dass in vielen Fällen eine unklare therapeutische Zielsetzung vorliegt und dass alternative Maßnahmen, wie zum Beispiel mehr Zuwendung oder Bewegungstraining, nicht probiert wurden.
Gerade bei Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeeinrichtungen kommt es oft zu einem Medikamentenmix, bei dem das Behandlungsziel unklar ist, jedoch viele Nebenwirkungen auftreten. Außerdem erhöhen sich die somatischen Risiken, beispielsweise erhöhte Verwirrtheit, Gangunsicherheit und Sturzneigung wegen der dämpfenden Wirkung der Medikamente.
Außerdem treten immer wieder auch Fehler bei der Medikamentenvergabe auf. Sei es durch Übertragungsfehler, statt „Tropfen“ wird „Milligramm“ notiert, oder es kommt zu Doppelvergaben, weil auf die Abzeichnung vergessen wurde.
Insbesondere bei der Verwendung von Psychopharmaka kommt es in Pflege- und Betreuungseinrichtungen häufig zu einer sogenannten „Bedarfsmedikation“. Diese wird oft auch auf Wunsch des Pflegepersonals, zur Dämpfung von „Unruhezuständen“ verordnet. Die ernstliche und erhebliche Gefährdung ist in vielen Fällen nicht erkennbar.
Bewohnervertretung ist nicht allein
Neben der Bewohnervertretung sind sich auch andere Berufsgruppen des Ernsts der Lage bewusst. Bei der Tagung „Medikationssicherheit“ am 9. November 2016 in Wien wurde das Thema aus der Perspektive von ÄrztInnen, ApothekerInnen und verschiedenen anderen VertreterInnen des Gesundheitswesens erörtert.
„Es ist uns in den letzten Jahren gelungen, ein größeres Bewusstsein für das Thema zu schaffen“, resümiert Susanne Jaquemar, Fachbereichsleiterin Bewohnervertretung. „Bei vielen BewohnerInnen konnte erreicht werden, dass sich durch alternative Maßnahmen ihre Lebensqualität deutlich verbesserte, indem ihr Alltag aktiver gestaltet wurde, sie sich mehr bewegen und nachts besser schlafen. Diese Verbesserungen im Lebensalltag der BewohnerInnen sind durch das kontinuierliche Hinterfragen und Überprüfen von beschränkenden Medikamentengaben durch die Bewohnervertretung möglich.“
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Vortrag zum Thema "Freiheitsbeschränkungen durch Medikamente" im Rahmen der Tagung "Medikationssicherheit" am 9. November 2016 in Wien