Der alltägliche kleine Heimskandal
„Ein Heim ohne Barmherzigkeit“ betitelte der "Standard" seinen Bericht über das „Netzwerk St. Josef“ in Mils. Ehemalige MitarbeiterInnen berichteten von körperlichen Übergriffen, schwarzer Pädagogik und mangelnder Hygiene.
Die Bewohnervertretung von VertretungsNetz kontrolliert Freiheitsbeschränkungen in Einrichtungen der Pflege und Betreuung und kennt auch das „Netzwerk St. Josef“. Dieses ist eine der letzten großen Behinderteneinrichtungen in Tirol mit über 130 Bewohnerinnen und Bewohnern. „Das, was über Mils jetzt groß in der Zeitung stand, passiert in vielen Heimen. Es ist der kleine alltägliche Skandal, von dem für gewöhnlich niemand Notiz nimmt“, beschreibt Erich Wahl, Bereichsleiter der Bewohnervertretung in Salzburg und Tirol, den Zustand nüchtern. „Dazu wird es immer wieder kommen, solange sich die Verantwortlichen nicht mit den grundlegenden Strukturen der stationären Pflege und Betreuung befassen, die solche Gewaltphänomene begünstigen.“
UN-Behindertenrechtskonvention: Mehr Rechte für Menschen mit Beeinträchtigungen
Menschen mit Beeinträchtigungen sollen selbst bestimmen, wie sie leben und wohnen wollen. Dieses Ziel ist in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) formuliert und sollte seit 2008 auch in Österreich das Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen verändern. Die De-Institutionalisierung ist eine Folge dieses zentralen Konventionsziels. Menschen mit Beeinträchtigungen sollen selbst entscheiden, ob sie in einer WG leben wollen, zu Hause bei den Eltern oder doch mit entsprechender Unterstützung in einer eigenen Wohnung.
„Umso unverständlicher ist es dann, wenn beim Neubau von Einrichtungen wie aktuell beim Konradinum in Salzburg nach dem Prinzip „altes Konzept im neuen Haus" vorgegangen wird“, zeigt sich Erich Wahl verärgert. Keine Beteiligung von SelbstvertreterInnen in der Planungphase. Keine Auflösung der Kombination von Wohn- und Tagesbetreuung, um den Bewohnerinnen und Bewohnern ein Entkommen aus dem Heimalltag zu ermöglichen. „Volksanwaltschaft und Bewohnervertretung zeigen seit Jahren durch ihre Kontrollen die strukturellen Defizite der Einrichtung auf. Dass diese Strukturen jetzt im Neubau fortgeschrieben werden, ist symptomatisch für die österreichische Heimgeschichte“, so Wahl.
Strukturelle Gewalt in Heimen
Einrichtungen werden zumeist von Menschen konzipiert und geleitet, die nie über Jahre in einer Institution gelebt haben. Sie haben keine Vorstellung davon, was es bedeutet, sich dem dortigen Regime unterwerfen zu müssen. Und je mehr Unterstützung eine Person benötigt, desto größer ist ihre Abhängigkeit von den Regeln und dem Personal. So steht letztlich das Funktionieren der Struktur vor den Bedürfnissen der einzelnen Menschen.
„Abendessen um 16.30 Uhr, schlafen gehen um 18.00 Uhr, Personen, die aufgefordert werden in die Windel zu machen, weil sie niemand beim Gang auf die Toilette unterstützt“, schildert Erich Wahl verschiedene Beispiele von struktureller Gewalt, welche die Bewohnervertretung in Institutionen vorfindet. Als „schwierig“ gelten dann jene Bewohnerinnen und Bewohner, die sich gegen diese Regeln auflehnen oder sie schlicht und einfach nicht einhalten können.
Doch mindestens genauso problematisch ist es, sich dem System zu fügen, um keine Umstände zu machen. „Wenn eine Person mit Demenz in den ersten Wochen in einer Institution massiv beschränkt wird, dann wird sie später kaum mehr Anstalten machen, von sich aus wegzulaufen“, erzählt Erich Wahl von Erfahrungen der Bewohnervertretung. „Problematisch wird es dann vor allem, wenn die Bewohnerin bzw. der Bewohner keinerlei Aktivität mehr zeigt. Wenn sie bzw. er nur noch im Zimmer oder Aufenthaltsraum sitzt und vor sich hinstarrt. Vielfach wird das als Normalität angesehen, aber dabei handelt es sich um Hospitalisierung, hervorgerufen durch die starren Strukturen der Einrichtungen und mangelnde Angebote für die Bewohnerinnen und Bewohner.“
UN-BRK endlich ernst nehmen
Das Leben in einer Institution ist kein selbstbestimmtes im Sinne der UN-BRK. Dennoch zwingt die Gesellschaft Menschen, die keine andere Möglichkeit haben, sich mit dieser Wohnform zu arrangieren – mit all ihren Konsequenzen. „Die Inhalte der UN-BRK sind Menschenrechte. Daran gibt es kein Vorbeikommen. Von daher ist es dringend notwendig, das System der institutionellen Betreuung und Pflege grundsätzlich in Frage zu stellen und stattdessen Alternativen im Sinne eines selbstbestimmten Lebens und Wohnens, wie zum Beispiel die Persönliche Assistenz, zu unterstützen“, fordert Erich Wahl ein generelles Umdenken.
Weiterführende Links
Der Standard, 18.02.2019: "Ein Heim ohne Barmherzigkeit"
Salzburger Nachrichten, 27.02.2019: „Volksanwalt und Experten rügen Konradinum-Neubau“
Salzburger Monitoringausschuss, Jänner 2019: Empfehlung an die Salzburger Landesregierung zum geplanten Neubau und Betrieb der Einrichtung Konradinum