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29.04.2019

Zwangsweise in der Psychiatrie

Patientenanwaltschaft präsentiert aktuelle Daten

Wie lange und wie häufig werden Menschen in Österreichs psychiatrischen Einrichtungen zwangsweise untergebracht? Und warum macht es einen Unterschied, ob dies in Wien oder der Steiermark geschieht? Die Patientenanwaltschaft von VertretungsNetz präsentiert spannende Auswertungen und sorgt für Diskussionsstoff auf einer Psychiatrietagung.

Es ist ein ungelöstes Rätsel: Die Wahrscheinlichkeit, in einer psychiatrischen Abteilung zwangsweise untergebracht zu werden, variiert je nach Bundesland stark. Die Steiermark verzeichnet fast doppelt so viele zwangsweise Unterbringungen wie Wien. Dafür unterliegen PatientInnen, die in der Bundeshauptstadt untergebracht werden, viel häufiger sogenannten „weitergehenden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit“ (körpernahe Fixierungen, verschlossene Krankenzimmer o.ä.) als etwa in Salzburg.
Wie kommen diese signifikanten Unterschiede zustande?

„Diese Frage stellt sich schon seit vielen Jahren. Aber mangels sozialwissenschaftlicher Forschung zu diesen Zusammenhängen können wir nach wie vor nur Vermutungen anstellen“, so Michael Steffen, Bereichsleiter der Patientenanwaltschaft in OÖ und NÖ-West, der die aktuellen Auswertungen von VertretungsNetz auf der Psychiatrietagung der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP) in Gmunden am 26.04.2019 präsentierte.

„Für diese Unterschiede sind sicher mehrere Einflussfaktoren verantwortlich, etwa ob es sich um offene oder geschlossene Stationen handelt und wie die extramuralen Angebote in der jeweiligen Region ausgebaut sind. Es spielt auch eine Rolle, ob sich die stationäre Psychiatrie zentral an großen oder dezentral an kleineren, regionalen Krankenhäusern befindet. Nicht zuletzt wissen wir, dass es auch ‚Unterbringungskulturen‘ in den Ländern gibt, ja sogar an Abteilungen und Krankenhäusern desselben Bundeslandes erleben wir unterschiedliche Kulturen in unserer praktischen Arbeit.“

Raumkonzepte als Schlüssel
Aus Erfahrung weiß der Patientenanwalt, dass der Einfluss von Raum- und Lichtkonzepten in der Psychiatrie gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: „Am Beispiel des Landesklinikums Mauer sieht man das gerade recht gut. Der kürzlich erfolgte Neubau der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Erwachsenenpsychiatrie hat viel bewirkt.“

Mehr Platz und Rückzugsräume für die PatientInnen sind in psychischen Ausnahmesituationen besonders wichtig, sie wirken sich beruhigend aus. Auch das Krankenhauspersonal steht weniger unter Stress – was wiederum deeskalierend wirkt. „Die ursprünglich eingeplanten sogenannten ‚optional schließbaren Bereiche‘ bleiben nun immer öfter offen. Sowohl die Anzahl der Unterbringungen als auch die Zahl der Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sind deutlich zurückgegangen“, zeigt sich Steffen erfreut.

Das Unterbringungsgesetz regelt genau, wann und wie lange ein Mensch in der Psychiatrie festgehalten werden darf. Möglichst rasch nach der Einweisung besucht eine Patientenanwältin oder ein Patientenanwalt die oder den Betroffene/n. Vier Tage nach der Meldung der Unterbringung muss ein Gericht über deren Zulässigkeit entscheiden, oder sie aufheben. Bei mehr als der Hälfte der untergebrachten Personen wird diese Zwangsmaßnahme jedoch schon nach wenigen Tagen, oft noch vor der vorgesehenen gerichtlichen Anhörung von den behandelnden ÄrztInnen wieder aufgehoben.

Kein Drehtüreffekt
Immer wieder wird deshalb kritisiert, dass Erkrankte, auch bedingt durch das Engagement der Patientenanwaltschaft, „zu schnell entlassen“ und deshalb immer wieder auf der Psychiatrie landen würden. Eine Kritik, die Michael Steffen nicht gelten lässt:

„Unsere Zahlen sprechen gegen einen Zusammenhang mit dem oft zitierten ‚Drehtüreffekt‘ – zumindest was den Unterbringungsbereich betrifft. Die Mehrzahl der Personen (ca. 60 %) wurde seit 2007 nur einmal zwangsweise untergebracht, im letzten Kalenderjahr 2018 traf dies für fast 80 % der untergebrachten PatientInnen zu. Aber natürlich müssen Menschen mit psychischen Erkrankungen nach ihrem Krankenhausaufenthalt auch therapeutische und soziale Angebote vorfinden, die sie dabei unterstützen, dass sich ihre Lebensumstände stabilisieren. Und diese Angebote müssen sie sich auch leisten können“, sieht Steffen vor allem die Länder und die Sozialversicherungen in der Pflicht.


Link

VertretungsNetz: Unterbringungshäufigkeit sowie Dauer und Aufhebung von Unterbringungen, Zahlen 2018