Seit Inkrafttreten des 2.Erwachsenenschutzgesetzes 2018 entscheiden alle Menschen, die entscheidungsfähig sind, selbst, ob sie einer medizinischen Behandlung zustimmen– und zwar unabhängig davon, ob sie eine Erwachsenenvertretung bzw. Vorsorgevollmacht haben oder nicht. In der Praxis ist die Regelung allerdings noch zu wenig bekannt. Betroffene werden nicht ausreichend in Entscheidungsprozesse eingebunden. Das hat sich z.B. während der ersten COVID-Impfkampagnen in Pflege- und Betreuungseinrichtungen 2021 gezeigt. So traten manche Pflegeheime an Erwachsenenvertreter:innen heran und ersuchten sie, für die von ihnen vertretenen Personen zu entscheiden, ob diese geimpft werden sollen. Eine solche undifferenzierte Zustimmung widerspricht aber dem Gesetz.
Ärzt:innen müssen Patient:innen in einer für sie verständlichen Art und Weise über Zweck und Folgen der Behandlung bzw. der Nicht-Behandlung aufklären. Wenn nötig, wird ein sogenannter „Unterstützer:innenkreis“ aus Angehörigen oder anderen Vertrauenspersonen beigezogen. Ziel ist es, dass der:die Patient:in die beabsichtigte Behandlung versteht und selbst eine Entscheidung darüber treffen kann.
Erst wenn es trotz all dieser Bemühungen nicht gelingt, die Entscheidungsfähigkeit der Person in Bezug auf die konkrete Behandlung herzustellen, kann ein:e Erwachsenenvertreter:in stellvertretend entscheiden. Voraussetzung ist, dass diese:r für den Wirkungsbereich der Gesundheitsthemen bestellt ist und kein Notfall („Gefahr in Verzug“) vorliegt.
Als Erwachsenenvertreter:in hat man sich dabei am mutmaßlichen Willen der vertretenen Person zu orientieren. Das heißt, man soll so entscheiden, wie man glaubt, dass die vertretene Person entscheiden würde, wenn sie dazu selbst in der Lage wäre – und nicht so, wie man selbst entscheiden würde. Die Entscheidung kann auch vom ärztlichen Behandlungsvorschlag abweichen, wenn man glaubt, dass aufgrund der besonderen Umstände die Person selbst anders entscheiden würde.
Wichtig: Niemand darf zwangsweise behandelt werden, auch nicht, wenn eine intellektuelle Beeinträchtigung oder psychische Erkrankung vorliegt.
Was gilt, wenn jemand nicht entscheidungsfähig ist, eine medizinische Behandlung möchte, aber sein:e Erwachsenenvertreter:in diese ablehnt? Oder umgekehrt: Ein:e Erwachsenenvertreter:in stimmt einer Behandlung zu, die ein:e Betroffene:r nicht möchte? Muss die Behandlung dann unterbleiben, oder darf sie gegen den Willen der:des Betroffenen vorgenommen werden ?
Falls nicht „Gefahr in Verzug“ ist, also Leben und Gesundheit akut bedroht sind, entscheidet in solchen Dissens-Fällen das Gericht, ob die medizinische Behandlung genehmigt wird oder nicht. In diesem Gerichts-Verfahren wird den Betroffenen ein „besonderer Rechtsbeistand für medizinische Behandlungen“ zur Seite gestellt. Diese Aufgabe übernehmen seit 2018 die Erwachsenenschutzvereine. Wieder am Beispiel Covid: VertretungsNetz hat in den letzten Jahren einige Verfahren begleitet, in denen sich Bewohner:innen von Behinderten- oder Pflegeeinrichtungen impfen lassen wollten, ihre Erwachsenenvertreter:innen aber dagegen waren – oder umgekehrt.
Verfahren im Rahmen des besonderen Rechtsbeistands sind komplex, aber wichtig, weil sie dazu beitragen, dass der Wille der Patient:innen jedenfalls ausreichend beachtet wird und alle Aspekte einer geplanten Behandlung ausreichend beleuchtet werden. Denn Menschen mit psychischen Erkrankungen oder intellektuellen Beeinträchtigungen gelten oft als „kompliziert“ oder werden nicht ernst genommen. Mitunter wird dann, wenn es um medizinische Eingriffe geht, vorschnell gehandelt oder übers Ziel hinausgeschossen. So kann es dazu kommen, dass Zähne gerissen, anstatt repariert werden, Gliedmaßen amputiert oder in Einzelfällen sogar Sterilisationen empfohlen werden, „zur Sicherheit“.
Seit Inkrafttreten des Erwachsenenschutzgesetzes wird in diesen hochsensiblen Situationen, wo es immerhin um das Recht auf körperliche Unversehrtheit geht, genauer hingesehen. Auch wenn ein Mensch nicht entscheidungsfähig ist, soll seine Selbstbestimmung so weit wie möglich gewährleistet und Zwang soweit wie möglich vermieden werden.
Links:
Webnews VertretungsNetz: Medizinische Behandlungen gegen den Willen?