Unter „Maßnahmenvollzug“ versteht man in Österreich die strafrechtliche Unterbringung von Täter:innen mit einer psychischen Erkrankung oder intellektuellen Beeinträchtigung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum, welche die Anlasstat unter dem maßgeblichen Einfluss einer psychischen Störung begangen haben. Als Anlasstaten kommen Vergehen mit einer Strafdrohung von mehr als einem Jahr in Betracht. Bei sog. „minderschweren Anlasstaten“ (die mit nicht mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind), muss es zusätzlich eine Prognose geben, die befürchten lässt, dass der:die Täter:in erneut besonders qualifizierte Taten begeben wird. (vgl. § 21 Abs. 3 StGB idF Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022).
Mehr als die Hälfte der Patient:innen im Maßnahmenvollzug wird wegen minderschwerer Delikte wie gefährliche Drohung, (versuchter) Widerstand gegen die Staatsgewalt oder (versuchte) Nötigung eingewiesen. Im Gegensatz zur Strafhaft wird die Maßnahme zeitlich unbegrenzt ausgesprochen und es besteht keine Aussicht auf eine Aussetzung zur Bewährung. Nur einmal im Jahr wird überprüft, ob die Unterbringung aufgehoben werden kann. Selbst diese Überprüfung bleibt häufig mangelhaft oder findet gar nicht statt. Mangelhafte Gutachten liefern oft die Basis für eine Haftverlängerung. Entlassungen aus dem Maßnahmenvollzug sind sehr selten.
Personen im Maßnahmenvollzug unterliegen darüber hinaus massiven Beschränkungen ihrer Persönlichkeitsrechte (z.B. Zwangsbehandlungen, Bewegungsbeschränkungen, Isolation) und verfügen über keine professionelle rechtliche Vertretung bzw. wirksamen Rechtsschutz. Sowohl rechtliche Grundlagen als auch die Praxis des österreichischen Maßnahmenvollzugs verletzen die Vorschriften der UN-Behindertenrechtskonvention. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Österreich daher wiederholt für die Missstände in diesem Bereich gerügt. Auch die Liga für Menschenrechte, die Volksanwaltschaft und der Monitoringausschuss mahnen Reformen ein.
Im März 2023 trat nun der erste Teil einer Reform in Kraft, in dem es um die Einweisungskriterien geht. Ein wichtiger Schritt, die Reform geht aber nach Ansicht von VertretungsNetz nicht weit genug. Wir fordern, dass etwa Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen oder demenziell erkrankte Menschen nicht mehr eingewiesen werden.
Im noch fehlenden 2. Teil des Reformvorhabens, in dem es um die Bedingungen für bereits Untergebrachte geht, muss eine gesetzliche Vertretung für psychisch erkrankte Menschen durch Erwachsenenschutzvereine und damit ein wirksamer Rechtsschutz verankert werden, z.B. bei medizinischen Behandlungen. Betroffenen sollte künftig – analog zu einer Unterbringung in psychiatrischen Abteilungen in Krankenhäusern – ein:e Patientenanwält:in zur Seite gestellt werden.
Hier lesen Sie mehr.
Links:
VertretungsNetz: Maßnahmenvollzugsgesetz: Reform geht nicht weit genug (November 2022)
Stellungnahme von VertretungsNetz zum Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz, 2021
Stellungnahme der Plattform Maßnahmenvollzug, 24.11.2020: Anti-Terror-Paket ist schwerwiegender Grundrechtseingriff
Entwurf Maßnahmenvollzugsgesetz (MVG), 2017
Stellungnahme von VertretungsNetz zum Entwurf eines Maßnahmenvollzugsgesetzes
Arbeitsgruppe Maßnahmenvollzug: Bericht an den Bundesminister für Justiz über die erzielten Ergebnisse, Jänner 2015, PDF, 1,19 MB
Bericht der Volksanwaltschaft 2017 zur präventiven Menschenrechtskontrolle PDF 1,4 MB
Österreichische Liga für Menschenrechte: Befund 2017
Stellungnahme des Monitoringausschusses zum Maßnahmenvollzug, 2015, PDF, 497 KB
Wintersberger, E.: Der Maßnahmenvollzug, die Zwangsbehandlung und das Justizministerium. In: Maßnahmenvollzug. Menschenrechte weggesperrt und zwangsbehandelt. Wien 2016. Mandelbaum Verlag.
Wintersberger, E.: Sachwalterschaft und (Zwangs-)Behandlung. In: Maßnahmenvollzug. Menschenrechte weggesperrt und zwangsbehandelt. Wien 2016. Mandelbaum Verlag.
Wintersberger, E., Marlovits M.: Vorbeugende Maßnahmen? In: Maßnahmenvollzug. Menschenrechte weggesperrt und zwangsbehandelt. Wien 2016. Mandelbaum Verlag.
Wintersberger, E., Marlovits M.: Vorbeugende Maßnahmen - umfassend reformbedürftig oder entbehrliche Fremdkörper im österreichischen Strafrecht? Ein Plädoyer für die Abschaffung der §§ 21 bis 23 StGB. iFamZ 5/2015